Der Abend, an dem ich beim Singkreis war
„Lasst doch hingehen, Komfortzone verlassen ist wichtig“, sagte ich klugscheißerisch, sprach dabei aber hauptsächlich mit mir selbst.
Kurzatmig und verschwitzt liefen Thomas und ich die gefühlt 20.000 Stufen hinauf, wie damals in Sri Lanka zum Sri Pada/Adam’s Peak, nur regnete es diesmal nicht und es gab keine Blutegel, stattdessen ein enges Stiegenhaus im von außen mit Efeu bedeckten Gebäude. Es war ein warmer Freitagabend im April, den wir normalerweise draußen verbracht hätten, schließlich nimmt man in Berlin (und im April) solches Wetter nicht für selbstverständlich. Aber an dem Abend hatten wir einen anderen Plan: Wir gingen zum Singkreis, beeilten uns, um genau zu sein. Und diesmal freuten wir uns so richtig darauf, auch wenn das noch vor ein paar Wochen nicht der Fall war…
Das erste Mal nahmen wir nämlich Ende März daran teil. Julie war über das Osterwochenende zu Besuch aus Tirol, und wir suchten online nach einer Abendbeschäftigung. Es war Karsamstag, in der Stadt völlig tote Hose. Schließlich stieß sie auf eine Veranstaltung und las uns die Beschreibung vor (gekürzt): This community singing circle is an interactive experience, a journey through rhythm, movement and breath, in the safety of a space.
„Das klingt cool, wollt ihr hinschauen?“, fragte sie lächelnd. Stille. Ich musste das Gehörte erst mal verdauen, denn mir schoss sofort durch den Kopf, dass ich wahrscheinlich im Laufe des Abends allein vor fremden Menschen singen müsste. Meine Haltung dazu: unter der Dusche ja, vor fremden Menschen nein. Thomas saß in der Küche und reagierte zuerst gar nicht, was normalerweise bedeutet, dass man auf seine Teilnahme nicht zu zählen braucht. Unsere Skepsis färbte offensichtlich ab, denn plötzlich erinnerte sich die zuerst von der Idee begeisterte Julie daran, wie sie mal bei einem Event als Begrüßung ihren Namen vorsingen musste. „Juuuuuuuhuuuuliiiaaaaaaa“, machte sie sich selbst nach, um mir die Absurdität der Situation zu vermitteln, und klang dabei wie die Walisch sprechende Dori aus Findet Nemo. Wir lachten beide los. „Das mache ich ganz sicher nicht mehr“, sagte sie ernst. Ich beobachtete, wie wir, ohne Beweise und Abendpläne, uns progressiv in das schlimmste Szenario reinsteigerten und sprach das Machtwort aus: „Lasst doch hingehen, Komfortzone verlassen ist wichtig“, sagte ich klugscheißerisch, sprach dabei aber hauptsächlich mit mir selbst.
Wir zahlten am Eingang und betraten den großen, im Kerzenlicht beleuchteten Yogaraum. Das flackernde Licht warf sanfte Schatten an die Wände und Dachschrägen, während warme Luft durch die offenen Fenster in den Raum strömte. In der Mitte befand sich ein Altar mit Kerzen, Kristallen und Wiesenblumen, die zu einem kleinen Strauß gebunden waren. Ringsherum waren etwa 20 Yogakissen in einem Kreis angeordnet, zwei davon waren für die Kursleiterin und ihren Partner vorreserviert. Diese Plätze waren leicht zu erkennen, da eine Gitarre daneben lag.
Um 20:15 Uhr betrat die junge Leiterin den Raum, setzte sich hin und schaute bestimmt 30 Sekunden lang stumm in die buntgemischte Gruppe, bis es mucksmäuschenstill wurde. Sie begrüßte uns, stellte sich vor und fragte, wer zum ersten Mal hier sei. Sicher die Hälfte von uns hob die Hand. Daraufhin versicherte sie uns, dass alles, was wir hier machen würden, nur eine „Einladung“ sei und dass wir „den Kreis immer verlassen“ könnten. Ich atmete erleichtert aus, fragte mich jedoch gleichzeitig, was mich denn dazu veranlassen könnte, den Kreis verlassen zu wollen? Wir sangen doch nur. Kurz nach der Einführung animierte sie uns dazu, aufzustehen und uns durch den Raum zu bewegen, „die Leute um uns herum wahrnehmen“. Ach ja, da stand doch was davon in der Beschreibung. Eine interaktive Veranstaltung ist das, mit Bewegung und Tanz. Ich versuchte, nicht in Panik zu geraten, aber kneifen kam nicht in Frage.
Wir spazierten durch den Raum, in keine bestimmte Richtung, folgten dem Gitarrenklang und summten, um langsam hineinzufinden. Meine Stimme war noch rau; ich spürte, dass es mir schwerfiel, die Töne zu halten, aber die Vibration fühlte sich gut an und durchdrang meinen ganzen Körper, weckte ihn auf. Kurz darauf sollten wir stehenbleiben und mit einer anderen Person Augenkontakt aufnehmen. Ich schaute die junge Frau vor mir an, durch ihre Brille bemerkte ich, wie ihre Pupillen unruhig von links nach rechts sprangen. Das stresste mich ein wenig. Zugegeben kam mir die Aufgabe auch etwas zu intim vor, was wahrscheinlich auch der Sinn dahinter war. Ich hielt also durch, und wenn es zu viel wurde, konzentrierte ich mich einfach auf den Punkt zwischen ihren Augenbrauen. Ich hatte mal gelesen, dass dadurch die Illusion entsteht, als ob du deinem Gegenüber direkt in die Augen schaust. Das machte ich aber nur kurz, weil ich mich dann plötzlich schlecht fühlte —schummeln wollte ich ja nicht. Abgesehen davon wurde es mit der Zeit immer einfacher. Irgendwann entspannten sich meine Schultern, das Atmen wurde tiefer, ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Ich fing sogar an, es zu mögen. Wie hieß noch mal diese Studie, die besagt, dass es nur vier Minuten Augenkontakt braucht, um sich in eine Person zu verlieben? Moment, ich google das schnell. Scheinbar hat Arthur Aron 1997 die Theorie aufgestellt, dass man 36 bestimmte Fragen und vier Minuten Augenkontakt benötigt, um Gefühle für eine Person zu entwickeln. Heißt das, dass ich mich in dieses Mädel vor mir verlieben würde? Das würde ich nie rausfinden, da die Aufgabe keine vier Minuten dauerte. Wir mussten nämlich abbrechen und uns Rücken an Rücken stellen. Sollte wohl nicht sein. Wir wippten hin und her, „beobachtet einfach, wo eure Stimme euch hinführt“, sagte die Leiterin auf Englisch. Ich hörte eine Mischung aus Os und As, einige Stimmen erhoben sich laut und kraftvoll (da merkst du sofort, wer in der Freizeit gern Oper singt), andere klangen zart und sanft, also eher schüchtern. Nach der Aufgabe bedankten wir uns gegenseitig, indem wir unsere Handflächen vor der Brust zusammenbrachten und mit dem Kopf nickten. Namasté. Danach setzten wir uns wieder an unsere Plätze.
Wie in einer Sommernacht am Lagerfeuer im Wald verbrachten wir die nächsten zwei Stunden gemeinsam, manche stehend, manche sitzend oder liegend, und sangen dabei verschiedene Mantras, darunter einen Auszug aus Cura von Yopi & Lotta. Der etwas abgewandelte Text (auf Spanisch) ging so: Cura, cura, curador. Agradezco por mi vida, Pachamama, yo te amo, cura, cura, curador. (Zu Deutsch: Heile, Heile, Heiler. Ich danke für mein Leben, Mutter Erde, ich liebe dich, Heile, Heile, Heiler.) Wir wiederholten das Mantra mehrmals, durch die Repetition bemerkte ich, wie sich der Brustkorb öffnete, die Ängste und Gedanken sich Schritt für Schritt lösten, die Stimme butterweich wurde, die Augen sich schlossen und ich mich in der Melodie verlor. Mit jeder Wiederholung sang ich lauter und wollte gar nicht, dass der Moment aufhört. Die verschiedenen Stimmen und Stimmlagen im Raum vermischten sich, für sich allein wäre wohl keine herausgestochen, aber in der Gruppe klang es so, als hätten wir schon lange dafür geübt. Hin und wieder traute sich jemand, eine neue Tonfolge auszuprobieren, manchmal wurde ein Kanon eingebaut, sodass jede Wiederholung frische Nuancen mit sich brachte. Manchmal verlor ich mich komplett im Stimmengemisch, manchmal richtete sich meine Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Stimme. Die ganze Erfahrung fühlte sich sehr verbindend an — wie eine Yogastunde für die Stimme. Es hatte etwas Kraftvolles, fremden Menschen so viel Vertrauen zu schenken. Innerhalb kürzester Zeit entstand eine Gemeinschaft, die sich nur mit dem Klang der Stimmen und den Blicken aufbaute. Denn eigentlich tauschten wir in dieser Zeit kein einziges Wort miteinander aus. Doch der Eindruck, einander zu kennen, war da, weil hier gefühlt alle ihre Masken ablegen konnten und für den Moment in einem sicheren Raum authentisch sein durften. Grundsätzlich werden Mantras ja für heilende Zwecke verwendet und fördern transformative Erfahrungen in einem. Dass gemeinsames Singen unser Wohlbefinden steigert und Freundschaften stärkt, wurde auch wissenschaftlich nachgewiesen (siehe die Links). Alle, die als Kind im Chor waren oder zu Weihnachten mit Menschen, die ihnen nahe stehen, regelmäßig singen, wissen, dass etwas Wahres dran ist. Es werden Endorphine freigesetzt und ein Gefühl von Euphorie kommt hoch. (Obwohl ich an dieser Stelle anmerken muss, dass die Erfahrung bei einem Singkreis auch komplexe Gefühle in einem auslösen kann. Sollte es also zu viel werden, kann man eine Pause einlegen oder die Beobachter:innenrolle einnehmen.) Scheinbar haben singende Menschen auch eine höhere Lebenserwartung. Faszinierend, oder?
Über zwei wie im Flug vergangene Stunden später verließen wir beflügelt den Raum, alle drei euphorisch und begeistert von der Erfahrung, die wir gerade miteinander geteilt hatten. Julie grinste: „Hab ich gut ausgesucht, oder?“ Ich war auch etwas stolz, dass wir uns überwunden hatten und unser Mut so großzügig belohnt wurde.
Wieder einmal habe ich gelernt, dass es sich fast immer auszahlt, über den eigenen Schatten zu springen, um neue Eindrücke zu sammeln. Denn wenn eines klar ist: Einfacher ist nicht gleich besser! Schließlich streben wir als Menschen bestenfalls danach, zu wachsen, und dazu gehört eben auch, uns in die Zone des Unbekannten zu begeben. „Bald wieder?“ warf ich in die Runde.
Nun standen Thomas und ich, wie angekündigt, zwei Wochen später wieder da, diesmal ohne Skepsis und ohne Angst, dafür mit einem großen Stück Vorfreude und neugewonnener Offenheit in der Tasche. „Zwei Tickets, bitte.“