Ich habe schon immer viele Briefe geschrieben – an Partner, Freund:innen, an mich selbst oder mein älteres Ich und manchmal sogar an Protagonist:innen aus meinen Lieblingsbüchern. Auch Tagebücher führe ich seit ich ungefähr elf bin. Gedanken regelmäßig zu Papier bringen, heißt für mich, mein Innenleben zu verstehen und Erlebtes zu verarbeiten; es hilft mir dabei, den Gedankenknäuel zu entwirren und Klarheit zu schaffen. Und Klarheit fühlt sich für mich als sensible Person immer gut an, erdend, wie ein ewiger Wellnessurlaub, tiefes Ein- und Ausatmen oder ein Mensch, der mein Ruhepol ist. Dass ihr heute diese Kolumne lest, hat auch nicht wenig mit dieser Motivation zu tun.
Da wir heutzutage hauptsächlich über Chats und Instagram kommunizieren, und selbst dort unsere Reaktionen oft auf Emojis, von unterwegs schnell hingetippte Worte oder das Liken der Nachrichten reduziert sind – sei es aus Überforderung, Zeitmangel oder Faulheit –, schätze ich das Handgeschriebene umso mehr. Meine reisefreudigste Freundin Raquel schickt mir zum Beispiel regelmäßig Postkarten von unterwegs. Allein in den letzten Monaten habe ich zwei aus verschiedenen Regionen Japans und eine von der Küste Neuseelands erhalten. Darin schreibt sie nichts Exklusives; oft beinhalten ihre kurzen Mitteilungen einfach das Highlight ihres Tages, egal wie grandios oder banal dieses war. Letztens hieß es aus Japan: „Heute habe ich das beste Gericht aller Zeiten gegessen!“ Wenn ich solche Zeilen lese, überkommt mich ein großes Dankbarkeitsgefühl; ich freue mich, dass sie diese Auszüge aus ihrem Leben mit mir teilt und versuche, meine Wertschätzung zurückzugeben, indem ich mir bewusst die Zeit nehme, die Karte in Ruhe zu studieren. Ich lese sie zuerst ungeduldig frisch aus dem Briefkasten, meistens nach dem Pilateskurs, wenn ich die Treppen zu meiner Wohnung im dritten Stock mit den bereits offenen Schuhen hinaufgehe. Danach setze ich mich mit der Karte und einer Tasse Kaffee, die Finger gegen das warme Porzellan gedrückt, in meinen Bürosessel und bin erstmal beeindruckt von den vielen tollen Sachen, die sie macht.
Seit meinem Auswandern nach Österreich (im Juni vor genau 20 Jahren!) und auch zum Teil schon davor habe ich den Großteil aller Briefe, Postkarten, Notizen, Tagebücher, Fotos, Kinokarten, Flug-, Zug-, Konzerttickets, you name it, aufbewahrt. Für viele mag das wie Panik auslösendes Horten klingen, Kisten, die zu viel Platz in den Kästen unter den kuscheligen Wolldecken und alten Rucksäcken einnehmen und vielleicht doch irgendwann weggeschmissen werden sollten. Ich kann das gut nachvollziehen, denn auch mich überkommt immer wieder der Wunsch, alles auszumisten, und ich sage zu mir selbst: Lass los, lass es einfach los! Meistens im Januar, in der „new year, new me“- Phase oder frisch im Frühling, wenn der Winter gerade erst vorbei ist und ich mich nach einem Neuanfang sehne (ehrlich gesagt, fühle ich mich auch jeden Monat so, wenn ich in meiner follikulären Phase bin). Etwas anderes gibt es bei mir ja eigentlich nicht auszumisten, weil ich eh immer dieselbe Kleidung trage und nur mehr selten einkaufen gehe. Aber nein, das Sentimentale könnte ich tatsächlich nie wegwerfen. In Berlin habe ich drei Kartons voller Erinnerungsstücke in den Schubladen unter meinem Bett verstaut, und bei Mama und meinem Stiefpapa liegen noch drei weitere Boxen im Keller. Darin befinden sich auch die Andenken meiner Exfreunde, darunter die Karten und Briefe, die sie mir geschrieben und die kleinen Aufmerksamkeitsgeschenke, die sie mir gemacht haben. Gerade muss ich an diese eine Folge von Gilmore Girls denken, als Rory nach ihrer Trennung mit Dean verdrängend ihre Mutter Lorelai darum bittet, die Dean-Box wegzuschmeißen und Lorelai weise kontert: „Irgendwann mal ist das hier Vergangenheit. Dann wird es dir leidtun, dass du sie wegwarfst“ und versteckt sie stattdessen ohne Rorys Wissen im Schrank. Später dankt ihr Rory dafür.
In meinen Kisten befinden sich auch einige selbstgebastelte Geburtstagsgutscheine für „einen Kaffee“ oder „ein Eis“ von österreichischen Freundinnen und auch Menschen, die ich mittlerweile seit Jahren nicht mehr gesehen habe sowie die Zettelchen, die meine Klassenkamerad:innen und ich in Belarus während des Unterrichts heimlich ausgetauscht haben – echte Rebell:innen! «Кто тебе нравится?» (zu Deutsch: „In wen bist du verliebt?“) war darauf die beliebteste Frage. Dieses Wochenende habe ich sogar einen selbstgeschriebenen „Vertrag“ herausgekramt, den ein Mitschüler von mir unterzeichnen musste. Damit versprach er mir, mich während des Unterrichts nicht zu ärgern. Ich muss wohl zehn gewesen sein …
In den letzten Monaten habe ich für eine Schreibaufgabe begonnen, mich mit den Inhalten zu beschäftigen, die in diesen Boxen schlummern. Manchmal ist das emotional ziemlich schwierig, vor allem wenn ich Briefe von Großeltern finde, die nicht mehr am Leben sind. Umso schöner ist es jedoch, ihre Schrift zu erkennen und sich vorzustellen, wie ihre Finger dieselben rauen und trockenen Stellen des Papiers berührten wie meine, wie sie am Küchentisch, den Rücken gebeugt über dem Papier und die Brille gegen die Nase gedrückt, ihre Gedanken niederschrieben. Letztens habe ich einen Brief von meinem Opa gefunden, dessen Gesichtszüge ich heute nur schwer rekonstruieren kann. Ich erinnere mich nur an das ausgebleichte Tattoo auf seinem rechten Unterarm und an die dunkelgraue Polyester-Jogginghose, die er zu Hause gerne trug. Dank dieses Briefes habe ich realisiert, dass Opa und ich, auch wenn nur kurz, eine Beziehung zueinander hatten, obwohl ich bis dahin vom Gegenteil überzeugt gewesen war. Das zu erfahren war aus vielen Gründen ein Geschenk und hat mir wieder mal gezeigt, wie fehlerhaft und zum Teil trügerisch unsere Erinnerungen sind. Das hat übrigens, so lernte ich mal in meiner Arbeit als Ghostwriterin, mit unserem episodischen Gedächtnis zu tun, das für die Geschichten und Ereignisse aus unserer Vergangenheit verantwortlich ist. Die Psychologin Marigold Linton hat in den Siebzigerjahren bei einem Experiment festgestellt, dass sich die einzelnen Erinnerungen nach einigen Wochen dann nicht mehr chronologisch, sondern thematisch aufeinander beziehen. Das heißt, irgendwann habe ich die wenigen Briefe, die ich von Opa erhalten habe, den vielen Briefen von Oma zugeordnet. Kurz gesagt: Je mehr Zeit vergeht, desto unbedeutender wird sie für unser Gedächtnis.
Am Freitag habe ich einen Brief von meiner Kindheitsfreundin aufgemacht. Geschrieben hatte sie ihn am 23. März 2005 um 16:55 Uhr (ja, die Uhrzeit hatte sie tatsächlich dazunotiert :)), das war ca. ein Jahr nachdem meine Mama und ich nach Österreich ausgewandert waren. Meine Freundin, damals 14 Jahre alt, sprach in ihrem Brief über meine plötzliche Abwesenheit und erzählte mir, dass sie unsere Freundschaft vermisste. Der Brief klang sehr aufrichtig, fast schon wie eine traurige Offenbarung. Der deutsche Schriftsteller Theodor Fontane hat mal gesagt: Der Brief ist der Abdruck einer Stimmung. Ich finde, er hat recht. Briefe lesen sich wie Tagebucheinträge, weil sie unsere Stimmung zu dem Zeitpunkt authentisch wiedergeben. Zum Schluss schrieb meine Freundin: „Lass uns einen Pakt abschließen. Jeden Abend vorm Schlafengehen schauen wir aus dem Fenster zum Himmel und denken aneinander.“ Ob wir das damals tatsächlich umgesetzt haben? Ich schickte dieser Freundin, die inzwischen in den USA lebt, auf Instagram ein Foto von dem Brief. Daraufhin antwortete sie auf Russisch: „Wie schön, dass du ihn noch hast, das ist eine richtige Rarität! Ich muss meine Sachen auch mal durchwühlen…“ An unsere Abmachung konnte sie sich auch nicht erinnern.
Sechs Monate bevor meine Oma im Jahr 2021 plötzlich starb, hatte ich sie gebeten, mir von ihren Kindheitserinnerungen zu erzählen. Zu dieser Zeit befasste ich mich als Ghostwriterin mit der Lebensgeschichte eines älteren Mannes und realisierte dabei, dass ich kaum etwas über die Kindheit meiner Oma wusste. Innerhalb einer Woche fand ich ein schön geschriebenes Kuvert in meinem Briefkasten. Darin beschrieb sie in fünf kurzen Abschnitten die prägendsten Momente ihrer Kindheit. Obwohl diese Erinnerungen knapp und zum Teil vage waren – viel Zeit war vergangen, und sie als Kriegskind neigte dazu, vieles aus ihrer Vergangenheit zu verdrängen –, ist dieser Brief das wertvollste materielle Geschenk, das sie mir hinterlassen hat. Ich ließ die Geschichten von einer Freundin illustrieren, druckte sie zusammen mit den Bildern jeweils auf A3-Blättern aus und schenkte Kopien davon unseren Familienmitgliedern. Die Originalzeichnungen durfte ich behalten. Auch wenn ich diesen Brief und die vielen Erinnerungsstücke sehr schätze, möchte ich dennoch etwas Wichtiges anmerken: Nur weil ich am sentimentalen Wert der Dinge so hänge, soll es nicht so klingen, als hätte ich jede Minute und Erinnerung, als ich sie lebte, mit den mir nahestehenden Menschen ausgekostet. Im Gegenteil, es gibt Personen, von denen ich mich nicht verabschieden konnte oder deren Anwesenheit ich damals nicht ausreichend wertgeschätzt oder deren Bedeutung ich nicht erkannt hatte, denen ich nie gesagt hatte, wie wichtig sie mir waren. Vielleicht tendiere ich genau aus dem Grund noch heute dazu, alles aufzubewahren – weil vieles eben nicht mehr zurückzuholen ist und das oftmals das Einzige ist, was übrig bleibt.
Das Schreiben ist nicht nur eine Lebensnotwendigkeit für mich, sondern auch ein unterbewusstes Bedürfnis, etwas von mir als Persönlichkeit und meinem Leben zu retten, ja einen Abdruck auf dieser Welt zu hinterlassen, ein intellektuelles und emotionales Erbe sozusagen. So stelle ich eine Verbindung zur nächsten Generation her und gebe Einblicke in meine ehrlichen und ungefilterten Gedanken. Also betrachtet diese Kolumne vielleicht als meinen – zwar nicht handgeschriebenen, aber doch nicht weniger authentischen – wöchentlichen Brief an euch. Zwischen den Zeilen bin ich tatsächlich am genauesten.
Eure Niki.