27. November 2024
Es ist nach 16 Uhr, und schlagartig wird es in der Wohnung dunkel. Das Handy schaltet in den Abendmodus, draußen zeichnen sich nur noch die Umrisse der nackten, vom Novemberwind gebeugten Äste ab. Ich lasse das Licht im Wohnzimmer aus, auch die Lichterkette am Tannenbaum mache ich nicht an, sondern bleibe eine Weile im Dunkeln sitzen.
Eigentlich wollte ich den Baum am 1. Advent aufstellen, wie ich es jedes Jahr mache, habe mich aber diesmal anders entschieden und ihn bereits eine Woche vorher beim Tannenmann in der Landsberger Allee geholt. Mit seinen 1,5 Metern lag er unscheinbar in einer Ecke, während die Familien durch die Reihen perfekt proportionierter Riesenbäume schlenderten. Plötzlich fühlte ich mit dem kleinen Baum mit, stellte mir vor, wie er, bestellt und nicht abgeholt, bis ans Ende seiner wenigen, miserablen Tage hier auf dem kalten Asphalt liegen würde. Bis er ganz braun zu Pferdefutter wurde.
Für knapp 15 Mäuse nahm ich ihn mit.
Der Tannenmann schob meinen Auserwählten durch den Netzrichter – seine letzte Demütigung – und ich trug ihn in dieser kompakten Form nach Hause, stellte ihn ins Wohnzimmer auf den besten Platz, den neben der Kommode mit dem Plattenspieler, wo er seine Nadeln ausbreiten konnte. So.
Heute sitze ich auf der Couch und starre in die schwarze Luft, dorthin, wo der Baum steht, ich ihn aber nicht sehen kann, bis mir plötzlich eisig kalt wird. Im Badezimmer lasse ich heißes Wasser über meine Hände laufen und blicke dabei aus dem Fenster direkt in den Hof. Im Wohnzimmer des Hauses gegenüber steht ein Weihnachtsbaum, der bis zur Decke reicht. Wie ein Leuchtturm blinkt er in regelmäßigen Abständen, als würde er mir ein Signal schicken wollen: Siehst du mich? Komm schon, siehst du mich? Ja. Ja, ich sehe dich.
Einige Stunden später spaziere ich durch den Park zum Pilatesstudio, zum zweiten Mal an dem Tag. Mittags nach dem Training habe ich mich für eine abendliche Dehnstunde eintragen lassen. Mit halb geschnürten Schuhen und offenem Mantel rief ich meiner Kursleiterin ein beiläufiges „Bis später!“ zu. Sie wirkte sichtlich irritiert, lächelte aber freundlich zurück. Die Verwirrung kann ich ihr nicht verübeln, habe ich ja auch noch nie gemacht – zweimal am selben Tag hinzugehen, meine ich –, auch wenn ich seit letztem August regelmäßig bei ihr trainiere und mittlerweile ein limitless Abo habe. Was bedeutet, dass ich für einen Monatsbetrag so oft kommen kann, wie ich mag. Zu Beginn traute ich mich nicht, es voll auszunutzen, aus Angst, maßloß zu wirken. Als würde ich das Abo missbrauchen, wie ein Running Sushi Angebot.
Heute Abend ist diese Zurückhaltung ganz weit weg. Die Beine, der Rücken, die Gedanken – alles fühlt sich unter meiner Haut so verkrampft an und muss entknotet werden. Draußen ist die Luft wärmer als erwartet. In letzter Zeit passiert es mir oft, dass ich Dinge falsch einschätze, also ziehe ich die Mütze und den Schal wieder aus und hänge sie über den New Yorker Beutel. Durch die Kopfhörer singt mir Bill Withers mit seiner tiefen, souligen Stimme live aus der New Yorker Carnegie Hall und dem Jahr 1973 zu. I only want to love you, please don’t push me away, let me in your life. Ein Jahr geprägt von der Watergate-Affäre und der Ölkrise, passenderweise feierte da auch Der Exorzist Premiere, aber Bill will bloß lieben und geliebt werden. Den Gedanken find ich irgendwie tröstlich. Die Liebe – ein Akt des leisen Widerstands gegen die Dunkelheit. Ob sich die Besungene ihm schließlich öffnen konnte? Mir hingegen ist gerade nicht danach, jemanden – weder Bill noch sonst jemanden – in mein Leben zu lassen. Ich will nur summend mit ihm durch die Nacht gehen, einen Fuß vor den anderen setzen und dabei vergeblich versuchen, nicht in die matschigen Pfützen zu treten.
Als ich den Blick von meinen nassen Füßen hebe, leuchtet mich die Welt an: Straßenlaternen, danesi- Reklamen, fremde und vertraute Namen auf Klingelschildern, Apotheken, Ampeln sowie Stirnlampen der Läuferinnen, die schnaufend an mir vorbeijoggen. Die Fenster strahlen sanftes Licht aus, und die Balkone sind von dichten Lichterketten geschmückt. Beim Italiener, bei dem ich letztes Jahr eine Pizza to go bestellt habe, flirtet ein Pärchen an einem Tisch mit der rot-weiß karierten Tischdecke, während das Kerzenlicht warme Schatten auf ihre lachenden Gesichter wirft.
Alles um mich herum versucht, der Dunkelheit zu entkommen. Es möchte auffallen, leuchten, die schwarze Nacht mit goldener Farbe übermalen. Die Welt glänzt, aber ich mache nicht mit. Ich möchte unsichtbar sein, eine stille Beobachterin, die am Geschehen passiv teilnimmt und nichts von sich preisgibt. Es fühlt sich unfair an, sich sowas zu wünschen. Als ob ich es nicht verdient hätte, mit meiner miesen Miene und unerklärbarer Traurigkeit die Freude der Welt einfach so zu erfahren. Als wäre das Leben ausnahmslos ein Tauschgeschäft – immer und überall, 50/50, Geben und Nehmen in gleichem Maß. Doch manchmal, wie heute, möchte ich nichts geben, sondern einfach existieren. Ich möchte keine passenden Reaktionen oder Antworten liefern, keiner Nachbarin winken oder einer fremden Person in der Schlange im Buchladen ein Lächeln schenken. Und wenn eine Freundin anruft, möchte ich mucksmäuschenstill für sie da sein, kein mhm, ja oder verstehe dazwischen einwerfen, nur: zuhören.
Im Studio höre ich eine Stunde lang mir selbst zu, oder genauer: in mich selbst hinein. Auf einer der acht Matten, mit einer Decke und einem Block. Jede Person für sich, im eigenen Schneckenhaus. Als wir in der Kapotasana-Pose sind, geht die Kursleiterin durch den Raum und korrigiert die Haltung unserer Hüften. „Wer nicht angefasst werden will, soll die Hand heben“, sagt sie. „An manchen Tagen wollen wir einfach in Ruhe gelassen werden.“ Ich gebe ihr kein Zeichen, nicht aus Höflichkeit, sondern weil es sich gut anfühlt, verstanden zu werden. Vielleicht ist es das, was passieren soll: Dass man sich gegenseitig die Erlaubnis erteilt, ob bewusst oder unbewusst, den Druck abzulegen, auf eine bestimmte Art sein zu müssen. Und dass wir damit einen Raum schaffen, in dem Licht und Schatten zwar nicht unbedingt im Gleichgewicht sind, aber beide ihren Platz haben – und gleichermaßen wichtig sind.
Wieder draußen in der abgekühlten Nachtluft fühle ich mich freier, in der Hüfte wie in Gedanken. Auch die Schwere in den Schultern hat nachgelassen. Es beginnt zu regnen und weil ich keinen Regenschirm dabei habe, nehme ich ausnahmsweise die Tram. Durch die beschlagenen Scheiben wirkt alles irgendwie getrübt, aber scheint sich trotzdem zu bewegen, vorwärts zu treiben. Vielleicht ist das Leben genau das – nicht immer glänzen, nicht immer geben und nehmen, sondern manchmal nur da sein. Sich an der Welt und den Menschen um uns herum festhalten, ohne sie zu greifen. Und während der Regen leise gegen das Fenster prasselt, für einen Moment spüren, dass alles in Ordnung ist. Nicht perfekt, nicht ganz so leicht – aber genug.
Mag. Günter Porta
liebe Veronika,
du schreibst mit soviel Gefühl. Ich bin ein Fan von dir.
Da ist viel Gefühl drin. Zwischen den Zeilen. Ich wünsche mir, dass meine Kunden das auch so hinkriegen. Oder viele auf dem LinkedIn Feed. Da ist so viel rationales Zeug.
Hast mich zu etwas inspiriert. Grazie! 🍋