Glück kommt in allen Formen
Manchmal findet es dich in Mexiko und manchmal hinterm Familienhaus im Wald
Als ich gestern am 4. Advent im Haus meiner Familie in Tirol aufwachte, war die Welt pudrig weiß. Der Garten, die Bäume, die Dächer – alles war unter einer weichen, schimmernden Decke vergraben. Über Nacht sind bestimmt fünfzehn Zentimeter Neuschnee gefallen und laut Medienberichten sollte es noch eine Weile in diesem Tempo weitergehen. Mit weit aufgerissenen Augen hüpfte ich wie ein kleines Kind am Weihnachtsmorgen in den Hausschuhen auf die Terrasse und sog das Spektakel mit allen Sinnen auf. Plötzlich fühlte sich das Versprechen der Meteorologen real an: Dieses Jahr könnte es weiße Weihnachten geben.
Im Flur kramte ich meine alten Wanderschuhe hervor, schlüpfte in den knielangen beigen Daunenmantel meiner Mutter und machte mich auf den Weg in den Wald, der nur eine Straße hinter dem Haus liegt. Im Vorbeigehen grüßte ich die Nachbarn, die schon fleißig mit der Schaufel die Einfahrt vor ihren Häusern freiräumten, während die Kinder noch gemütlich im Pyjama frühstückten. Kurz bereute ich es, die Kaffeetasse halbvoll am Küchentisch stehengelassen zu haben, schob den Gedanken aber schnell wieder weg.
Es war noch früh, kurz vor 9, und der Wald lag still. Außer mir war keine Seele zu sehen, und selbst der Wind schien innezuhalten, als würde er den Moment nicht stören wollen. Die einzigen Geräusche waren das leise Knirschen meiner Schritte. Die Schneeflocken wuchsen minutiös zu fluffigen Zuckerwattestückchen, die auf meinen Wimpern wie federleichte Wasserballons zerplatzten. Sie durchnässten meine Haare und wurden zu Pfützen in meinen Schuhen, doch das alles konnte mir die Laune nicht trüben. Glücklich spazierte ich die Straße entlang, auf der ich in den Wintern zuvor mit Freund:innen hinuntergerodelt war, und ließ meine Gedanken in das Jahr 2011 schweifen – das letzte Mal, als Heiligabend hier im glitzernden Schnee erstrahlte.
An das Weihnachten erinnere ich mich nicht, aber das Jahr in seiner Gänze war monumental gewesen. Im Spätsommer war ich fürs Bachelorstudium nach Wien gezogen und die Zeit brachte so einige Veränderungen mit sich: Ich teilte eine Wohnung mit drei anderen Leuten (zwei davon kannte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht), fuhr jeden Tag U-Bahn, las Bücher unter den Bäumen des Burggartens und beobachtete, wie die Sonne im Brunnenwasser vor der Karlskirche aufging. Ich schloss neue Freundschaften, verlor Kontakt mit alten Bekanntschaften, arbeitete nebenbei in einem Hotel und färbte meine Haare rot. Ich machte all das und noch viel mehr und fühlte mich dabei zum ersten Mal komplett erfüllt. Es war ein Neuanfang und ein Lebensabschnitt, der rückblickend viele Lektionen brachte und die Weichen für die Person stellte, die ich später werden sollte.
Der Mensch, zu dem mich die Stadt gemacht hat, bin ich heute nicht mehr, und das ist gut so. Ich blicke ohne Wehmut auf die junge Frau zurück, die ich einmal war, nicht weil mit ihr etwas nicht stimmte, sondern weil ich überzeugt bin, dass Veränderung notwendig ist – auch wenn sie unangenehm oder unerwartet kommt. In den letzten 13 Jahren fand sie vor allem in Form von Geschichten zu mir: Manche waren nur ein Kapitel lang, andere könnten ganze Buchreihen füllen. Und dann gab es natürlich auch Momente, die nur aus Bildern oder Klängen bestanden, weil sie sich nicht in Worte fassen ließen. Was wirklich nennenswert ist, lässt sich nicht in einer bestimmten Länge erklären oder in einem besonderen Format festhalten. Vieles, was mein Leben geprägt hat, dauerte nicht länger als einen Augenblick, dessen Bedeutung sich mir erst im Rückblick erschloss.
Denke ich an dieses Jahr zurück, kommt mir ein bestimmter Tag im Februar in den Sinn, an dem ich im Pazifik nahe dem mexikanischen Puerto Escondido hunderte von Tümmlern an mir vorbeiziehen sah. Thomas, Gina und ich hatten auf Empfehlung eine Bootsfahrt bei einer Öko-Agentur gebucht, die versprach, auf das Wohl der Tiere zu achten. Wie Meeresakrobaten sprangen die Delfine bis zu drei Meter in die Luft, als würden sie eine Show nur für uns liefern wollen. Weit draußen auf dem offenen Meer, wo die Küste längst hinter dem Horizont verschwunden war, beobachtete ich sie, wie sie unbekümmert ins endlose Blau hinauszogen, und fragte mich, wohin sie so zielstrebig wanderten. Wahrscheinlich in ein wärmeres Gewässer oder dahin, wo es mehr Futter gibt.
Ich stellte mir vor, wie es wäre, das Leben ganz nach eigenen Instinkten zu leben, frei von jeglichen Erwartungen – sei es von äußeren oder von uns selbst auferlegten. In einem Rhythmus, der so unerschütterlich mit der Natur verbunden ist, dass er gar nicht hinterfragt wird. Keine Grenzen, keine Landkarten – nur die Welt, die dich umgibt und der Lebenswille, der dich antreibt. Als ich den Tieren bei ihrer Tanzperformance zusah, verspürte ich eine tiefe Ehrfurcht, als wäre ich zufällig Zeugin von etwas so Heiligem geworden, dass ich es gar nicht hätte sehen dürfen. Ich fragte mich, ob sie Zugang zu einer Wahrheit hätten, die uns Menschen längst verloren gegangen war. Welche Art von Wahrheit das sein könnte, darüber konnte ich nur vage sinnieren. Vielleicht war es eine Wahrheit, die nur in diesem Moment existieren und als solche wahrgenommen werden sollte, eine, die mich dazu bewegt, fast ein Jahr später noch über diesen Tag zu schreiben und ihn zu den schönsten meines Lebens zu zählen.
Im Wald stand ich eine Weile mitten auf der verlassenen Straße und blickte nach oben, in den von Schneeflocken gesäumten Himmel. Als sie in Zeitlupe auf meinem Gesicht landeten und zu Wasser schmolzen, erfüllte mich ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit – für das vergangene Jahr, für diesen Winter und für die Möglichkeit, noch einmal weiße Weihnachten zu erleben. Wer kann schon sagen, ob und wann uns so etwas noch einmal vergönnt sein würde.
Vielleicht liegt die Einzigartigkeit des Glücks gerade in seiner Vergänglichkeit, die uns dazu antreibt, es so tief wie möglich in unsere Erinnerung einzubrennen. Wenn ich Glück habe, schlagen diese beiden Momente Wurzeln in mir, tief genug, um mir mit all ihren Farben und Konturen in vollkommener Klarheit für immer erhalten zu bleiben.
Ich beneide dich drum. Ich lebe in den Bergen (Apennin), aber ich habe hier in den letzten Jahren noch keine weiße Weihnachten erlebt.
Ich werde es wohl in Skandinavien irgendwann erleben. 😉🎄 Buon natale!
Liebe Niki,
wie schön von dir zu lesen! Auch wir erleben den Glücksmoment im weißen Traum in Graubünden!
Ein Geschenk von Marina passt perfekt dazu - Foto!
Genieß die Tage und auf ein spannendes 2025 gemeinsam für DIVIA!
Liebe Grüße nach Tirol
Uschi
☃️
Wie kann ich ein Foto einsetzen?