Ich habe ein Monat lang die Welt akribisch beobachtet. Hier ist meine Antwort.
Über Magie, nette Fremde, corporate girlies und Alltagspoesie #3 + #4
Am Montag, bzw. in Woche vier des Experiments (siehe Dinge im Alltag, die dir nicht auffallen), fand ich die Antwort, so wie es die Dichterin Marie Howe versprochen hatte. Lass mich erklären.
Am 15. Juli kurz vor Mitternacht liefen Thomas und ich durch das Bötzowviertel nach Hause. Es war sein Geburtstag, ein warmer Sommerabend ohne Regen, für den wir dankbar waren, weil es am Sonntag davor noch wie aus Kübeln geschüttet hatte. „Ich sag ja, an meinem Geburtstag ist immer gutes Wetter“, meinte er stolz zu mir, und ich erinnerte mich daran, wie pessimistisch ich gewesen war. Und er hatte recht. Wir kennen uns seit acht Jahren, und egal, wo wir an dem Tag sind: Am 15. Juli ist immer sonnig. Lucky!
Wir hatten einige Sangrias intus, leckere Tapas im Magen und schöne Gespräche mit unserer Freundin Gina, Grund genug also, um am späten Montagabend beseelt nach Hause zu hopsen. Oder sich eher im Schneckentempo vorwärtsbewegen. Ich hatte meine Lieblingsschlaghose im Stil der 70er Jahre an, in die ich mich für diese special occasion seit Langem wieder reingequetscht hatte, und die nach den vielen Kartoffeln mit Mojo und Ziegenkäse etwas zu eng gegen die Hüften und Bauch drückte. Als wir die Hälfte der Hufelandstraße hinter uns gelassen hatten, fiel mir ein kleiner Zettel mit einem bemalten Holzmarienkäfer auf dem Boden auf. Automatisch blieb ich stehen; die letzten Wochen des radikalen Beobachtens haben mich hyperaufmerksam gemacht, so sehr, dass jeder Farbunterschied auf einem dunklen Hintergrund hervorsticht und jedes banale Detail etwas Wichtiges zu verbergen scheint. Für eine Sekunde hinterfragte ich den Impuls, nach dem Zettel zu greifen, hätte ja Müll mit Urinspuren sein können oder etwas in der Art, was man bestimmt nicht mit den Händen angreifen möchte. Aber der Kontrast der roten Farbe des Holzmarienkäfers gegen die weiße Oberfläche des Zettels hat mich neugierig gemacht. Das Papierstück lag so leuchtend da, als würde es mir sagen wollen: „Komm, heb mich auf!“
Also tat ich es. Ich faltete den Zettel auf und blickte drauf. Da stand:
Ich werde diesen Moment der verblüfften Stille wohl nicht so schnell vergessen. Es kommt selten vor, dass es mir die Sprache verschlägt, aber da standen Thomas und ich sprachlos auf der dunklen Straße, um uns herum keine Seele, und schauten uns fragend an. „Ich hab hier auch keine pragmatische Erklärung dafür“ sagte er, der sonst immer einen logischen Denkanstoß parat hat, und wir mussten beide grinsen.
Es ist ja nicht so, als würde ich dieses Fundstück als ein Zeichen des Universums interpretieren. Oder eine Verbindung zum Moment vorher in der Tapasbar herstellen, als ich beim Hinsetzen einen echten Marienkäfer auf dem Holztisch entdeckte. Oder dass ich die Wochen davor immer etwas Rotes auf einer sonst farbenlosen Fläche fand. Auch wenn daran nichts verkehrt ist, nach einem Zeichen zu suchen, daran lag es nicht.
Es ist so, dass ich zugegeben etwas überrascht und auch beeindruckt bin, wieviel dieses Experiment in mir ausgelöst hat und dass es scheinbar auch irgendwie funktioniert hat. Es hat mich offensichtlich aufmerksam genug gemacht, für solche zufälligen Botschaften überhaupt empfänglich zu sein. Es war kein bewusster Akt, stehen zu bleiben. Ich dachte dabei nicht an die Aufgabe (später schon, aber nicht in dem Moment), sondern folgte dem reinen Impuls. Ich habe meinen Körper drauf trainiert, sozusagen. Das größte Learning ist wohl, dass ich nun viel mehr Schönes im Alltag wahrnehme und gar nicht mehr so viel den Drang verpüre, einen Vergleich zu ziehen. Im Gegenteil: Jede Metapher, die sich heranschleicht, wird hinterfragt. Beim kreativen Schreiben hilft mir das sehr, weil ich viel bewusster Entscheidungen treffe und nicht einfach Dinge hinkritzle, weil sie schön klingen. Ich nehme die Umgebung so wahr, wie sie ist. Meistens ist es nichts Besonderes, was mir auffällt, aber das Belanglose ist gar nicht mehr als belanglos interpretiertbar, sondern einfach da. Dieser Prozess hat etwas Befreiendes und Friedliches; du gibst die Kontrolle ab und lässt Dinge einfach sein. Und ab und zu, wenn du es am wenigsten erwartest, wirst du mit magischen Momenten (oder magischen Antworten?) wie diesem belohnt.
Andererseits bin ich so wahnsinnig berührt, dass es Menschen auf der Welt gibt, die selbstlos genug sind, um so etwas Nettes zu machen. Denn wenn eine Sache klar ist: Das hat jemand absichtlich mitten auf die Straße gelegt. Da saß jemand in seinem Zuhause, mit Stift, Schere und kleinem Beutel gekaufter Marienkäfer-Dekofiguren, überlegte sich eine motivierende Botschaft, schrieb sie in schöner Handschrift auf ein kleines Stück Papier, klebte den Glücksbringer drauf und legte den Zettel mitten auf die Hufelandstraße in Prenzlauer Berg. Ich meine, hallo? Bestimmt gibt es noch viele mehr davon. Mag sein, dass die Person ein paar Karma-Punkte sammeln wollte, denn wenn wir eine Sache von der Diskussion zwischen Phoebe und Joey gelernt haben, ist dass es keine Uneigennützigkeit gibt (laut Joey jedenfalls nicht). Ob um karmische Blockaden zu lösen oder nicht, war das eine ziemlich nette Sache. Ich sollte meine Hobbys überdenken.
Außerdem kann ich gerade diese Botschaft sowas von gebrauchen. Das an mich glauben, ist dieses Jahr gar nicht leicht gewesen; nicht bei diesem Wirtschaftsklima, das Freelancer:innen als erstes eine Ohrfeige verpasst hat. Die Aufträge sind unregelmäßig, die Bemühungen und Erschöpfung aber gefühlt doppelt so groß. Jeden Tag erinnere ich mich daran, dass es eine bewusste Entscheidung war, frei zu arbeiten. Aus verschiedenen Gründen. Doch aktuell fällt mir auf, dass ich mir öfter als mir lieb ist, wünsche, „ein corporate girly“ zu sein. Für alle, die den vielen GenZ-Trends nicht hinterherkommen: Damit sind TikTokerinnen gemeint, die den Alltag ihres 9-5 Bürojobs filmen. Ich schau mir an, wie sie jeden Tag mit ihrer riesigen Stanley-Flasche im fancy Auto zur Arbeit fahren und beginne schon zu tagträumen. Wie schön es wäre, am Nachmittag mit Kolleg:innen einen Kaffee zu trinken und trotzdem pünktlich Feierabend zu machen! Bezahlter Urlaub! Krankenstand! Herrlich. Natürlich weiß ich, dass so ein Leben auch nicht perfekt ist, aber manchmal sehne ich mich nach den Vorteilen einer Festanstellung. Ich gebe mir noch den Sommer Zeit und wenn sich die Situation bis Herbst nicht gebessert hat, werde ich vielleicht auch zum Corporate Girly. With a capital C and a capital G. Sí, sí. In der Zwischenzeit: Es ist Sommer, ich bin gesund, hab gute Laune, kann so viele Kurse wie ich will im besten Pilatesstudio der Welt besuchen, hab vorher leckere Nudeln gegessen und gehe später aus. Außerdem hat eine liebe fremde Person in Berlin mich gesegnet und gemeint, ich soll doch an mich glauben. What’s not to love? Und wer weiß, vielleicht war es ja ein Zeichen des Universums, das mir zu verstehen geben wollte, dass bald Leichtigkeit einkehren wird. Vielleicht war es ein reiner Zufall. Ob a oder b: Der Moment hat mich sehr glücklich gemacht. Und allein dafür hat sich das Experiment gelohnt.
Eure Niki
PS: Weil ich euch letzte Woche meine Liste vorenthalten habe, hier die 20 Beobachtungen der letzten 14 Tage:
Die jungen Beatles hüpfen albern auf dem Bett ihres Zimmers im Hotel George V in Paris und toben sich bei einer Kissenschlacht aus. Das Schwarz-Weiß-Foto wurde 1964 von Harry Benson, der die Band auf ihrer Tournee begleitete, geschossen.
Ich versuche mit dem Nagel des rechten Zeigefingers das zwischen den Zähnen festsitzende Popcornstück rauszukriegen, während Zendaya in Challengers ihren Exfreund mit zittriger Lippe anschreit. Die Frau, die neben mir im Open-Air-Kino sitzt, regt sich über die Insekten auf.
Der Staub versammelt sich auf dem Schirm der bordeauxroten Tischlampe, die sich vor mir verbiegt. Schwarze Jabra-Kopfhörer hängen auf ihrem Nacken.
Der linke Daumen reibt gegen die raue Oberfläche des durchsichtigen Bergkristalls; er hat Kratzspuren und Rillen und zwei glatte Seiten.
Die Schärfe der Chilis breitet sich langsam im Mund aus, das Gefühl beginnt im Rachen, landet dann auf dem hinteren Teil der kribbelnden Zunge.
Auf dem Tisch: Geburtstagskarten mit mousse au chocolat Flecken, ein Brigitte-Heft mit Zuckerspuren, ein rundes Computermauspad mit einem Boot am Strand als Motiv und einem Kaffeefleck am „Meer“.
Der Spruch auf dem gegen die Wand angelehnten schwarzen Letterboard mit Filzoberfläche und weißen Kunststoffbuchstaben lautet: „Canta, que los recuerdos siemp e son en viaje“. Dem „siempre“ fehlt ein r.
Der Raum riecht nach Palo Santo-Räucherstäbchen und ich nach Schweiß, der mir von meiner Stirn auf die grüne Lotuscrafts-Yogamatte aus Naturkautschuk und Jute tropft, als ich in der Plankposition die letzten zehn Sekunden mit der Pilates-Instruktorin mitzähle.
Die Überschrift auf der Zeitschrift sagt ICH MUSS GAR NICHTS.
Die Fußsohlen ruhen auf dem weichen Kelim, der unter dem Glastisch liegt.
Das Paar, das auf der Parkbank geknutscht hat, läuft mir Arm in Arm 15 Minuten später entgegen, als ich mit meinem Einkauf den REWE verlasse. Der Mann spricht Französisch.
Es regnet, als ich vom Sport nach Hause laufe. Ich habe keinen Regenschirm, lasse die warmen Tropfen auf meiner Haut runtergleiten, die nasse Erde gelangt zwischen meine Zehen. Ich schaue nach links: Das Licht brennt im leeren Schulgebäude, der Putzmann hat die Stühle auf die Tische gestellt, um den Boden des Klassenzimmers zu kehren.
Die Pflanze auf dem IKEA-Regal hat verschiedene Grüntöne, helle Farbflecken und ein gelbes Blatt, das sich hinten versteckt.
Die Klavierspielerin hat ein rückenfreies Oberteil an; mit jeder Handbewegung sticht ihr rechtes Schulterblatt hervor und spielt die Melodie mit.
Die Dame im Radio bedankt sich bei mir, Thomas schnippelt Brokkoli in der Küche und meine Haut glüht, weil es draußen über 30 Grad hat.
Ein Samstagabend am Open Air: Ein Falter sitzt auf dem kunterbunten Hawaiishirt des jungen tanzenden Mannes. Er schaut regelmäßig lächelnd runter auf seine Brust, um zu prüfen, ob der Schmetterling immer noch da ist. Lachend zupft er am Shirt seines Freundes, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, und zeigt mit dem Finger auf den Falter.
Die kleinen Discokugeln hängen in absteigender Höhe auf einem Holzgestell und glänzen pulsierend im Licht der Abendsonne.
Samstagabend: Limoncello Spritz und Skinny Bitch am Tresen an der Bar. Sonntagvormittag: Wasser mit hochreinem Vitamin C, gewonnen aus Tapioka, auf dem Küchentisch.
Die Frau überquert die Straße mit zwei Netztaschen: Eine mit Äpfeln und eine mit Orangen.
Ein himbeerfarbiges Tuch mit Quasten liegt auf dem schwarzen Plattenspieler, ein Stück davon fällt über die linke Ecke des Geräts.
Schönes write-up! Die Kunst des Beobachtens und aufmerksam-seins. Der beste Weg, um im Moment zu leben ❤️