Vom Komfortzone verlassen
Zuerst klang es wie eine großartige Idee. Ich stellte mir vor, wie ich voller Dankbarkeit für diese einzigartige Chance vorm Publikum stehe und ganz selbstbewusst meine Texte vorlese. Alle hören zu und sind begeistert. Ich bin nicht nervös, nur angenehm aufgeregt und stolz darauf, dass ich diesen Schritt gewagt habe. Rollt den roten Teppich aus, haltet die Kameras bereit, reicht den Oscar herüber, oder den Nobelpreis, was auch immer. Ich schenke euch mein breitestes Lächeln, vielleicht wird sogar noch mit der Hand gewinkt und schön für ein Foto gepost. Wie wichtig es für mich grundsätzlich ist, meine Komfortzone zu verlassen, habt ihr ja bereits aus meiner Kolumne über den Singkreis erfahren. Als ich also gefragt wurde, ob ich bei einem Poetry Reading Event hier in Berlin mitmachen möchte – sprich, meine eigenen Gedichte vorlesen –, sagte ich sofort zu. Zu dem Zeitpunkt waren noch ganze zwei Monate bis zur Veranstaltung, genug Abstand also, um das Ganze rational betrachten zu können. Außerdem steht auf meinem Vision Board für Kreativität, dass ich dieses Jahr mehr von meinen Texten öffentlich teilen soll, daher erschien mir diese Möglichkeit wie ein Geschenk. Jetzt beiße ich mir jedoch richtig in den Hintern dafür. Das Event ist schon nächste Woche, am 17. Mai, von der Rationalität ist nichts mehr zu spüren. Es gibt nur noch Panik und schweißgebadete Nächte (ganz so dramatisch nicht, aber ihr wisst, was ich meine). Seit vier Wochen lässt mich die Angst nicht mehr los, nicht mal in den Situationen, in denen ich normalerweise ganz entspannt bin. Am Dienstag nahm ich zum Beispiel an einem Soundhealing-Kurs teil und plötzlich schoss mir in der tiefsten Meditation der Gedanke in den Kopf, dass ich bald auf der Bühne stehen würde. Schwups, waren die Augen schon aufgerissen und mein Atemprozess unterbrochen.

Ihr fragt euch wahrscheinlich, was mich daran so stresst, schließlich teile ich regelmäßig als Redakteurin meine Texte und schreibe nun auch seit einem Monat eine wöchentliche Kolumne. Dieser Ort ist mein Happy Place; ich fühle mich hier wohl, kann ehrlich und ungefiltert meine Gedanken veröffentlichen und gleichzeitig ganz privat und zurückgezogen auf meiner Couch chillen. Gerade strahlt die Morgensonne durch die geöffnete Balkontür, draußen ist das Rascheln der Baumblätter (und auch etwas Autolärm) zu hören. Eine Tasse Kaffee steht auf dem Tisch und bei jeder Denkpause schaue ich eine wunderschöne lilafarbige Orchidee an und fühle mich inspiriert. Ich bin ganz in meinem Element, komplett authentisch, aber trotzdem privat, so wie ich es mag. Aber dieses Poetry Ding ist eine andere Nummer. Es ist eine offene Veranstaltung, sprich: Jede:r kann kommen und mich dabei anstarren, wie ich über jedes Wort stolpere. Außerdem mache ich mit sechs anderen Personen mit, alle super talentiert und toll, die Englisch als Muttersprache sprechen. Die Sprache ist gar nicht so das Problem, da ich ja eh primär auf Englisch arbeite. Viel mehr geht es darum, dass ich unter Druck dazu neige, ganze Buchstabenkombinationen zu verschlucken. Üben, üben, üben. Das habe ich das ganze Wochenende nun gemacht: Mich aufnehmen, die Audiodateien anhören, vorm Spiegel sprechen. Das Wetter ist traumhaft, und ich sitze in meiner Bude und führe den halben Tag Monologe. Diese Vorbereitung ist zu einem Vollzeitjob geworden. Was ist bloß los mit mir? Wenn meine Gedanken von einem Extrem ins nächste wandern und ich mir selbst schon auf die Nerven gehe, denke ich mir so: Hilfe, Niki, das sind zehn Minuten deines Lebens! Wenn du es verkackst, interessiert es das Universum auch nicht; es hat genug andere Sorgen. Ich komme mir vor, wie ein kleines Kind, das ständig am T-Shirt der Mutter zieht, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Außerdem lesen noch andere Leute vor. Wenn ich also nicht als Letztes dran bin, haben die Zuhörer:innen meine Gedichte bis dahin sowieso vergessen. Und wenn die Texte scheiße ankommen, dann bin ich vielleicht kurz der Grund, warum die Leute vor sich hin schmunzeln, aber davon geht die Welt auch nicht unter. Wenn ich die Situation aus der Vogelperspektive betrachte, so denke ich mir nur: Du bist so ein winziges Wesen auf diesem Planeten, nimm dich nicht so ernst. Ja, sag das meinem Kopf! Die Antizipation ist bekanntlich viel schlimmer als die eigentliche Sache, aber dass dieses Gefühl aufkommt, kann ich nicht kontrollieren. Vor ein paar Tagen habe ich im Gruppenchat unseres Kurses eine Nachricht von einem Teilnehmer erhalten, der uns alle zu seiner einstündigen Comedy-Show eingeladen hat. Ich bin total begeistert von Menschen, die so viel Selbstvertrauen haben. Er macht das nicht zum ersten Mal, das ist schon klar, und Übung macht den Meister. Trotzdem bin ich beeindruckt und hoffe, dass ich eines Tages selbst so weit bin. Dass ich mich darauf freue, meine kreativen Texte mit anderen zu teilen, ohne nervös vor erwartungsvollen Gesichtern zu stehen. Wobei: Sobald es losgeht, kann ich das normalerweise ganz gut überspielen, à la 'fake it till you make it'. Wie viele introvertierte Personen musste auch ich im Laufe der Zeit lernen, ein Stück aufgeweckter als gewohnt zu wirken, da unsere Gesellschaft extrovertierte Menschen bevorzugt. Es ist jedoch die Zeit davor, vor dem eigentlichen DING, die so unerträglich ist.
Nachdem ich alle mir bekannten Techniken gegen die Angst ausprobiert habe, gebe ich auf Google „Was tun bei Lampenfieber“ ein. Einiges davon habe ich bereits umgesetzt: Vorbereitung – abgehakt, positiver Zuspruch – ja, ja. Räumlichkeiten besichtigen! Das ist ein guter Hinweis, daran habe ich nämlich auch schon gedacht, es aber noch nicht umgesetzt. Auf Facebook gibt es nichts Aussagekräftiges dazu zu finden, aber auf dem Instagram-Kanal des Veranstaltungsgebers entdecke ich eine gespeicherte Story: ein Bild vom Reading Room. Es scheint so, als würde sich der Raum draußen befinden, in einem Hof. Bei gutem Wetter könnte das ja sogar ganz nett werden. Und eine Bühne gibt es nicht, nur einen ausklappbaren Stuhl, auf dem man sich zurücklehnen kann. Das Publikum sitzt um dich herum, auf Bänken. Okay, also, wenn das wirklich stimmt, dann hat mein Verstand sich wohl eingebildet, dass ich Maya Angelou bin. Schon etwas absurd. Ich frage mich, wie sich die anderen Teilnehmenden fühlen, aber sie verhalten sich alle relativ geheimnisvoll. Am Mittwoch treffen wir uns zu einer Vorbereitungsstunde, um gemeinsam zu üben. Ich hoffe, das beruhigt meine Nerven und sorgt nicht dafür, dass ich zwei Tage vor dem Event so von ihren Gedichten beeindruckt bin, dass mir meine eigenen dann wie Schrott erscheinen. Aber davon gehe ich erst mal nicht aus. Schließlich steht auf dieser Google-Empfehlungsliste auch: positiv denken. Sehr originell übrigens.
Ich wünschte, ich könnte euch jetzt eine Lösung präsentieren, wie ich meine Nervosität besiegt habe und plötzlich voller Selbstbewusstsein bin, aber leider müsste ich lügen. Ursprünglich hatte ich geplant, die Kolumne erst nach dem Event zu schreiben, um euch dann von der eigentlichen Veranstaltung zu erzählen, aber ich konnte es einfach nicht abwarten. Das Schreiben darüber hilft mir, so manchen Knoten zu lösen. Schon interessant, wie das, wovor ich am meisten Angst habe, gleichzeitig auch das Heilmittel ist. Vielleicht sollte ich mich genau darauf fokussieren – auf die Schönheit des Schreibens, wie Poesie Menschen verbindet und zusammenbringt. Ich finde nämlich, dass es eine Sprache ist, die jeder Mensch in sich trägt, aber nur wenige von uns nutzen. Viele denken, dass diese Sprache zu exklusiv und nur einer bestimmten Gruppe zugänglich ist, oder haben Angst, nicht klug genug zu sein, um die versteckten Botschaften zu verstehen. Diese Angst habe ich auch und trotzdem hat Poesie mein Leben verändert. Ja, es gibt viele Dichter:innen, auch der Moderne, deren Schreibstil für mich nur schwer zu begreifen ist, aber auch genug andere, die genau meinem Geschmack entsprechen. Ich dachte auch eine Zeit lang, vor allem in der Schule, dass mein Storytelling kompliziert klingen muss, damit es als gut und wichtig empfunden wird, aber eigentlich ist das Gegenteil der Fall. Die schönsten Gedichte und Texte sind meiner Meinung nach jene, die mich emotional berühren und zum Nachdenken bringen, die noch Tage später nachhallen, weil sie etwas in mir ausgelöst haben. Sie haben keine verschachtelten Sätze, an ihnen ist nichts Prätentiöses dran. Nur: Gefühl. Ich werde zum Beispiel niemals vergessen, wie ich zum ersten Mal What The Living Do von der New Yorker Dichterin Marie Howe gelesen habe. Es hat mein Leben komplett auf den Kopf gestellt. Hier ist es (leider finde ich davon keine deutsche Übersetzung):
Marie Howe: What The Living Do. (Über den Link kommt ihr zum Gedicht in seiner richtigen Form.)
“Johnny, the kitchen sink has been clogged for days, some utensil probably fell down there. And the Drano won’t work but smells dangerous, and the crusty dishes have piled up waiting for the plumber I still haven’t called. This is the everyday we spoke of. It’s winter again: the sky’s a deep, headstrong blue, and the sunlight pours through the open living-room windows because the heat’s on too high in here and I can’t turn it off. For weeks now, driving, or dropping a bag of groceries in the street, the bag breaking, I’ve been thinking: This is what the living do. And yesterday, hurrying along those wobbly bricks in the Cambridge sidewalk, spilling my coffee down my wrist and sleeve, I thought it again, and again later, when buying a hairbrush: This is it. Parking. Slamming the car door shut in the cold. What you called that yearning. What you finally gave up. We want the spring to come and the winter to pass. We want whoever to call or not call, a letter, a kiss—we want more and more and then more of it. But there are moments, walking, when I catch a glimpse of myself in the window glass, say, the window of the corner video store, and I'm gripped by a cherishing so deep for my own blowing hair, chapped face, and unbuttoned coat that I’m speechless:
I am living. I remember you.”
Ich finde diesen Brief an ihren verstorbenen Bruder so unglaublich berührend. Anfangs wirkt er wie eine Aufzählung von Beschwerden, bis man als Leser:in erkennt, dass es sich eigentlich um eine Dankbarkeitsliste handelt. Die Erzählerin teilt mit, dass für sie das eigentliche Leben in den Alltagsdetails stattfindet, so banal und nervig sie auch manchmal sein mögen. Schließlich lebt sie (noch). Sie erinnert sich.
Ein anderes Gedicht, das ich euch zum Schluss zeigen möchte, ist eines von Ellen Bass. Ich habe sie erst vor Kurzem im New Yorker entdeckt und mich sofort in die Direktheit ihrer Sprache, in der so viel Tiefgang steckt, verliebt.
Ellen Bass: The Small Country
“Unique, I think, is the Scottish tartle, that hesitation
when introducing someone whose name you’ve forgotten
And what could capture cafuné, the Brazilian Portuguese way to say
running your fingers, tenderly, through someone’s hair?
Is there a term in any tongue for choosing to be happy?
And where is speech for the block of ice we pack in the sawdust of our hearts?
What appellation approaches the smell of apricots thickening the air
when you boil jam in early summer?
What words reach the way I touched you last night—
as though I had never known a woman—an explorer,
wholly curious to discover each particular
fold and hollow, without guide,
not even the mirror of my own body.
Last night you told me you liked my eyebrows.
You said you never really noticed them before.
What is the word that fuses this freshness
with the pity of having missed it.
And how even touch itself cannot mean the same to both of us,
even in this small country of our bed,
even in this language with only two native speakers.”
Lasst die Worte auf euch wirken. Werdet ihr auch an Orte gebracht, an denen ihr noch nie gewesen seid? Ich lerne beim Lesen gefühlt tausend neue Galaxien kennen. Vielleicht denke ich nächste Woche, wenn ich vorm Publikum ganz allein und verletzlich stehe, einfach daran, wieviel mir Poesie bedeutet. So wirkt dann dieser erste Schritt vielleicht gar nicht so furchteinflößend.
Eure Niki.