Ich muss niemandem was beweisen!
Also lege ich ab jetzt die Kontrolle ab und lass das Leben einfach passieren.
Ich war bestens vorbereitet; hatte die Arbeitsprojekte der Person studiert, mir ihre Lectures reingezogen und zig Interviews auf YouTube angeschaut. In dieser Recherchephase kommt die perfekte Schülerin aus mir raus, nur ohne Federpenal und Füllfeder. Ohne Fleiß kein Preis, das habe ich schon im Sandkasten gelernt. Die Person wirkte freundlich, redselig und nahbar, also freute ich mich auf das Interviewgespräch und zog dafür sogar einen pinken Kimono und eine weite Stoffhose mit hellbraun-blauem Muster an, damit auch das Outfit meine Stimmung widerspiegelte: fröhlich, dankbar, selbstbewusst.
Doch schon bei der Begrüßung merkte ich, dass die Stunde etwas anders verlaufen würde als gewohnt. Die Person war freundlich, aber sehr reserviert und reagierte nicht auf meine Versuche, eine angenehme Atmosphäre zu kreieren, sodass ich mich nach zirka 50 Sekunden die erste Frage stellen hörte. Rucki, zucki lief das ab also — für mich ein eher ungewohnter Ablauf, da ich normalerweise zumindest zehn Minuten für ein persönliches Kennenlernen einplane. Nach einer Weile lief es besser, aber auch nicht perfekt. Nach jeder Antwort ging ich noch mal auf das Gesagte ein, kommentierte mit einer inhaltlich relevanten Notiz, um damit hoffentlich eine Tür zur fließenden Fortführung des Gesprächs zu öffnen, doch es entstand keines. Die Person wäre gefühlt lieber ganz woanders als hier, mit mir. Ich saß am Steuer, konnte den Wagen aber nicht wie gewohnt in die gewünschte Richtung lenken. Ich fuhr immer wieder in eine Sackgasse und musste dann zurück an den Start.
Als Journalistin gehört es zu meinem Alltag, Menschen über Arbeit und Leben zu löchern. Da laufen die Dinge auch mal anders als geplant, the show must go on, aber die Devise gilt ja nicht nur im Journalismus. Grundsätzlich heißt es: Solange am Ende ausreichend gutes Material zu dem behandelten Thema da ist, sind wir safe. Am liebsten würde ich aber alles rausfinden wollen, was mein Gegenüber bereit ist, zu teilen. Was bewegt dich, was regt dich auf, was inspiriert dich? Erzähle mir gern von deiner Kindheit, vom ersten Schultag, dem letzten Heartbreak. Ich bin an allem interessiert. Nicht weil ich überneugierig bin, sondern weil ich mich gern Menschen verbunden fühle und nur so das Leben ein Stückchen weniger einsam finde. Nur so habe ich das Gefühl, dass wir doch alle irgendwie im selben Boot sitzen und gemeinsam mit aller Kraft versuchen, nicht unterzugehen. Einmal sagte Model Bella Hadid in einem selbstaufgenommenen Video: “Sometimes I struggle with being human,” und als ich diesen Satz hörte, gab es für mich in dem Moment nichts, was sich hätte wahrer anfühlen können. Ich denke, dass ich vielleicht auch deshalb den Schwerpunkt meiner Arbeit auf Porträts gelegt habe, da ich in diesem Format noch am ehesten Menschen in all ihren Facetten nahe kommen kann.
Ich war also schon immer eher jemand, der tausende Fragen stellt und aufmerksam zuhört. Im Laufe der Jahre habe ich aber gelernt, dass Zeit Ressourcen benötigt. In professionellen Settings kostet es Geld, privat vor allem Energie. Also begann ich, Grenzen zu setzen. Im Beruf habe ich eine Balance für mich gefunden, eine Formel, die gut funktioniert. Manchmal klappt alles perfekt, manchmal nicht so. Ich habe gelernt, damit klarzukommen und es nicht persönlich zu nehmen. Warum haute mich dann dieses Gespräch an diesem Morgen im August so um? Das war ja nicht die erste Challenge, die ich überwinden musste. Menschliche Interaktionen sind nie makellos, warum fühlte ich mich also in dieser ungefährlichen Situation, in der schlussendlich alle das bekamen, was sie wollten, doch so zurückgewiesen?
Die rationale Antwort liegt auf der Hand: Ich wollte mich in die Person so gut es geht hineinfühlen, damit der Artikel so authentisch wie möglich werden konnte. Je mehr ich von der Persönlichkeit des:r Interviewpartners:in erfahre, desto mehr Details kann ich einbauen und so ein Gefühl für den Charakter erzeugen. Man könnte also meinen, dass ich den Auftrag als gefährdet betrachtete. Doch das war nicht die ganze Wahrheit. Es steckte etwas Tieferes dahinter, etwas, das mehr Gewicht hatte und mehr mit mir und weniger mit der Person oder dem journalistischen Auftrag zu tun hatte.
Ich dachte an eine Konversation mit einer Freundin.
„Es kam von ihm GAR keine Reaktion“, erklärte sie mir aufgebracht, „ich saß nur da und dachte mir: Hallo? Bitte gib mir irgendein Feedback — was denkst du, stimmst du mir zu, bist du dagegen, was fühlst du? Langeweile ich dich?“
Sie erinnerte sich an ein Gespräch (oder besser gesagt an einen Monolog) mit ihrem Freund (mittlerweile Exfreund). Sie hatten über etwas Banales diskutiert, nichts Lebensveränderndes. Grundsätzlich ging es ihr aber um sein Desinteresse, und die oben geschilderte Situation hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.
Ich nickte. War es das? Wollte ich einfach GAR keine Interaktionen tolerieren, bei denen ich das Gefühl hatte, die ganze Verantwortung für ein Gespräch tragen zu müssen? Klingt eher unrealistisch, aber im Grunde: Wer will das schon? Ich mache einen Aufschlag, doch anstatt retourniert zu werden, fällt der Ball auf der anderen Seite zu Boden und bleibt dort liegen. Dann liegt es an mir, rüberzulaufen, ihn aufzuheben und wieder ins Spiel zu bringen. Es fühlt sich isolierend an, dieser Gedanke, dass meine Worte beim Gegenüber keine sichtbare Emotion auslösen.
Heute, einige Wochen später, weiß ich, dass es nicht um das Gespräch an sich ging, sondern mehr darum, wofür es stand. Durch den unerwarteten Mangel an Zuspruch und paraverbaler Kommunikation brach an dem Tag, wieso auch immer, eine verkrustete Wunde wieder auf, und die Situation nahm mich unerwartet mit. Es wurden unschöne Erinnerungen wachgerufen: schlechte Dates, unangenehme Treffen mit respektlosen Verwandten oder Freund:innen, von denen man sich entfremdet hatte. Ich fühlte mich also abgelehnt und verstand nicht warum. Ich hatte doch alles richtig gemacht? Doch mein Fleiß war ein verschleierter Wunsch nach Anerkennung: Ich gehöre hierher, ich verdiene es, mit dir zu sprechen. Ich zeige dir, dass ich dich und deine Zeit respektiere. Ich bin (gut) genug.
Da haben wir es!
Als mir der letzte Satz in den Kopf schoss, erinnerte ich mich an Situationen in meinem Leben, in denen ich mich unsicher gefühlt hatte. Die Momente, in denen ich versuchte, meine Gefühle zu verbalisieren und daraufhin nichts außer Stille zurückkam. Oder wenn ich etwas Nettes für jemanden tat und es nicht wahrgenommen oder im schlimmsten Fall sogar abgelehnt wurde. Später hat sich diese Leere in einem Bedürfnis verfestigt, anderen etwas beweisen oder sie erst von meinem Wert überzeugen zu müssen. Wenn sie mir also nicht metaphorisch auf die Schulter geklopft und mit ihrem Gesichtsausdruck vermittelt haben, dass ich safe bin, kamen schon die Zweifel auf: Mache ich etwas falsch, sage ich vielleicht nicht das Richtige? Dieses Grübeln konnte ich im Laufe des Erwachsenwerdens leiser stellen, aber ganz ausmachen wohl nicht. Das braucht Zeit.
In diesem Analyse-Wahn schaute ich mir alte Zoom-Aufnahmen meiner Interviews an, die im Online-Archiv verlassen und vergessen rumlagen (mit Zustimmung gefilmt natürlich) und stellte kurz danach fest: Sich beim Sprechen sehen können, ist unnatürlich und sollte verboten werden. Damit tut man sich nichts Gutes. Direkt nach dem Drücken der Play-Taste hörte ich die innere Kritikerin jammern:
Warum runzle ich da so komisch die Stirn, sieht mein Mund immer beim Sprechen so aus (habe ich einen Überbiss?????) , sind meine Augenringe immer so groß und dunkel, warum schaue ich beim Nachdenken immer nach oben, als würde es auf der Decke einen Hinweis geben? Warum zuckt mein Gesicht so, während ich zuhöre? Warum hab ich da so oft ähm gesagt??
Uff! Ich kroch lieber schnell wieder aus dem Loch raus und nahm mir fest vor, keine Zoom-Aufnahmen mehr anzuschauen, sondern die Audiodatei gleich vom Video zu trennen.
Dann, genervt und irgendwie amüsiert über mich selbst, nahm ich mir fest vor, künftig die Kontrolle abzulegen und Dinge einfach geschehen zu lassen. Ohne mich selbst oder mein Verhalten zu bewerten und schon gar nicht vom Verhalten meines Gegenübers auf meinen Wert zu schließen. Wie Suse Kaloff in ihrer Kolumne mal schrieb: Ich muss nichts beweisen und niemanden von meiner eigenen Großartigkeit überzeugen. Ich kann die Stimmung anderer Menschen nicht beinflussen, muss in Gesprächen mit Freund:innen oder Bekannten keine „peinliche“ Stille füllen, sondern bin einfach ich und beobachte, was passiert. Diese Einstellung probierte ich letzten Mittwoch aus, als ich im Café mit Freundinnen an einem Matcha Latte schlürfte. Ich saß einfach da, die Sonnenstrahlen tanzten sanft auf meiner Haut. Und weißt du was? Niemand fiel um oder verließ empört den Raum. Niemand schrie mich an oder warf mir vor, eine desinteressierte Gesprächspartnerin zu sein. Zur Abwechslung stellte man sogar mir Fragen. Schließlich war nun auch Raum dafür da.