In einem Film wäre unser Wiedersehen der Beginn einer Love Story
& zum ersten Mal verstand ich: Man sieht sich wirklich immer zweimal im Leben
Manche Wochen sind eben so: durchgetaktet, anregend und voller Termine, die dich ausnahmsweise nicht erschöpfen, sondern euphorisieren. Die Monologaufführung lief für uns alle besser als gedacht, sodass ich nach der Performance und einem gemeinsamen Abschlussessen beim Italiener mit drei Taschen und einem Paar Gummistiefel ganz beseelt nach Hause fuhr. Mit Pizza to-go auf dem Schoß schaute ich auf die dunklen, punktuell beleuchteten Straßen von Berlin-Mitte und ließ dabei die letzten zwei Monate Revue passieren. Ich dachte daran, wie schön es doch ist, zu einer Community zu gehören und wie schade, dass wir uns in diesem stetig wachsenden Individualismus immer mehr voneinander abkapseln. Natürlich ist es wichtig, sich Zeit für sich selbst zu nehmen, auch ich ziehe mich meist zurück, um aufzutanken. Aber irgendwas fühlt sich jetzt in dieser selbst auferlegten Isolation anders an. Als hätten wir es in den Jahren zuvor zu weit getrieben und nun die Konsequenz – eine neue Art von Einsamkeit – daraus ziehen müssen.
Beim Schauspiel hatten wir Woche für Woche miteinander geübt – wie Kinder, die ihre ersten Schritte lernten. Wir jubelten einander zu, halfen uns beim Auf- und Abbau des „Bühnenbildes“ und snackten und quatschten in der Kurzpause gemeinsam. Für ein paar Stunden krochen alle aus ihrer eigenen Schale heraus. Vielleicht war das der eigentliche Grund, warum ich überhaupt mitgemacht hatte: weil ich langfristig etwas mit einer Gruppe von Menschen schaffen und gemeinsam erleben wollte. Zu sagen, dass wir in den zwei Monaten zu einer zusammengeschweißten Gemeinschaft geworden sind, die sich jetzt jedes Wochenende auf einen Kaffee trifft, wäre gelogen. Ich glaube, dass wir es allgemein als Menschheit in den letzten Jahren ein Stück weit verlernt haben, einander nahe zu sein. Alles fühlt sich schwerfälliger an: das Kennenlernen, das proaktive Melden, das Anvertrauen, das Dranbleiben. Schon allein ins Gespräch zu kommen, sich Fragen zu stellen, die über die obligatorischen hinausgehen, fühlt sich schnell übergriffig und fremd an.
So auch Unbefangenheit. Am Dienstagabend vor zwei Wochen saß ich im Zug Richtung Wannsee, das Fenster über mir war gekippt, sodass der angenehm kühle Wind wohltuend über meine Haut strich. Ich freute mich über den Temperaturwechsel und den Frühlingsbeginn, lehnte meine Stirn an das verschmierte Fenster voller Fingerabdrücke und hörte den gleichmäßigen Wagengeräuschen zu.
Zwei junge Frauen, wahrscheinlich im Teenage-Alter, saßen auf der gegenüberliegenden Seite der Sitzreihe, kicherten und hörten Musik, bis eine begann, in schiefer Tonlage zu singen. Die Freundin hielt sich fremdschämend eine Hand vor die Augen und sagte: „Du bist so peinlich, hör auf damit.“ Ich schaute zu ihnen hinüber und lächelte, um zu signalisieren, dass es mich nicht störte. Dass ich früher selbst „I’m like a bird” von Nelly Furtado lauthals und hingebungsvoll im Park gesungen hatte und sich in mir dabei Sommer ausbreitete, auch wenn draußen schon die Äpfel reiften. Keep on singing, also, wollte ich damit sagen, aber die Freundin flüsterte nur: „Schau, die lacht dich auch schon aus, hör auf, sonst hau ich dich.“ Ihre Worte machten mich irgendwie traurig, also drehte ich mich weg und ließ meinen Blick erneut über die verschwommenen Bildpassagen hinter dem Fenster gleiten.
Ich stieg am Bahnhof Wannsee aus und machte mich auf den Weg zum Literarischen Colloquium, wo ich eine Lesung, als Vorbereitung auf mein kommendes Interview mit der Autorin, besuchte. Die Gründerzeitvilla wurde von den Architekten Kayser & von Groszheim 1884/85 erbaut und ist seit 1962 Sitz des LCB. Ich setzte mich auf eine der Stufen, die vom Haus direkt auf die Terrasse mit Blick auf den Wannsee führten, um die extra zehn Minuten vor Beginn der Veranstaltung in Stille zu genießen. Ich dachte daran, dass ich hier auch inspirationslos inspirierende Geschichten schreiben könnte, weil schöne Aussichten und Wasser die Magie besitzen, eine schlummernde Sprachfähigkeit aus einem herauszukitzeln. Manche Besucher:innen standen da und blickten mit einer Zigarette in der Hand in die Weite, andere hielten ein Glas Rosé oder saßen wie ich mit leeren Händen auf den Stufen und warteten. Wir waren alle da, gemeinsam und doch irgendwie allein.




Entspannt suchte ich mir drinnen ein gutes Plätzchen, hörte aufmerksam dem Gespräch zu, machte Notizen, wenn ich interessante Antworten hörte oder welche als Aufhänger für mein Interview dienen könnten. Eine halbe Stunde nach dem Beginn der Lesung betrat ein Mann, wahrscheinlich in seinen Dreißigern, den Raum. Einen Rucksack gegen den Bauch gepresst, schmiegte er sich durch die letzte Reihe und ergatterte dort den letzten freien Platz. Ich erkannte ihn sofort.
Als ich vor ein paar Wochen nach einem Wien-Besuch im Zug auf dem Rückweg nach Berlin saß, stieg er in Prag ein und setzte sich neben mich. Die ganze Zeit über schrieb er an einem Essay auf seinem Laptop und vollzog dabei ein Ritual, das mich faszinierte: Leidenschaftlich tippte er etwas hin, klappte den Laptop dann energisch zu, nippte an seinem beim Bäcker gekauften Kaffee, fuhr sich durch seine roten Haare, klappte den Laptop erneut auf und tippte wieder drauf los. Als ichs nicht mehr aushielt, schielte ich neugierig rüber und las: „Warum wir uns immer in die Falschen verlieben“. Ich musste schmunzeln und wollte ihn fragen, ob er eine Antwort gefunden hatte, aber ich tat es nicht. Er fühlte sich unerreichbar an, zu sehr war er in seinen Gedanken verloren, zu tief im Thema. Also wandte ich mich wieder dem Buch der Autorin zu, deren Lesung ich jetzt besuchte. Wie sich später herausstellte, war mein Sitznachbar im Zug ausgebildeter Schauspieler und Dramatiker und zudem mit ebenjener Autorin befreundet. Er wusste aber nicht, dass ich das wusste, auch nicht, dass ich ihr Buch im Zug gelesen hatte, obwohl es nur einen Meter von ihm entfernt auf dem Klapptisch lag.
Wie eigenartig, dachte ich, als ich ihn jetzt, eine Woche später während der Lesung erneut beobachtete, diesmal, wie er irgendetwas in sein Handy tippte. Ich saß da, wusste all diese Dinge über ihn, über uns – wenn es ein „uns“ überhaupt gab –, schmunzelte über den Zufall, dass ich ihn hier wiedertraf, und dachte daran, dass man sich im Leben tatsächlich immer zweimal begegnet. Währenddessen wusste er aber nicht einmal, dass ich existierte.
In einer Rom-Com von John Hughes wäre unser Wiedersehen der Beginn einer großen Liebesgeschichte gewesen, ein richtiges meet cute, von dem wir später vor unseren Kindern und Enkelkindern prahlen würden. In einem anderen Film würde ich ihm von meiner neu entdeckten Liebe zum Theater erzählen, und er würde mir begeistert seine Lieblingsstücke als Pflichtlektüre empfehlen. Natürlich nicht seine eigenen Werke, dafür wäre er zu schüchtern, zu verlegen. Heimlich würde ich aber alle seine Arbeiten googlen, mir Bücher davon besorgen, sie in meiner Freizeit lesen und ihm irgendwann auf imessage ein Zitat aus einem seiner Werke schicken, gefolgt von einem knappen Kommentar. Ohne Emoji oder irgendetwas, damit es seine stärkste Wirkung hat. Von da an würden wir beste Freund:innen werden. Es würde eine lange Filmszene folgen, zusammengesetzt aus verschiedenen Momenten: Wir lachen, geben uns High Fives und schreiben gemeinsam an einem Theaterstück – mal im Café, mal im Park, mal spätabends zu Hause auf dem dreckigen Teppichboden, Münder voll mit Nudeln vom Chinesen von nebenan. Im Hintergrund läuft You Got a Friend in Me von Randy Newman. Die Szene endet damit, dass wir uns mit einem müden Lächeln reflektierend ansehen, und damit einander wortlos zeigen, wie dankbar wir sind, dass wir uns doch noch gefunden haben.
In der Realität jedoch ist diese Geschichte bestenfalls Stoff für eine Kolumne, in der ich ein wenig vor mich hin philosophieren darf. Wievielen Menschen sind wir wohl schon mehrfach begegnet, ohne es zu wissen? Wie viele verblasste Möglichkeiten und verpasste Chancen hat es schon gegeben – nicht unbedingt für eine Love Story, aber vielleicht für eine Freundschaft oder zumindest eine inspirierende Begegnung, die an uns vorbeigerauscht ist? Wie viele Menschen streifen unsere Geschichte, ohne dass wir Teil der ihren werden – oder umgekehrt? Was sagt das über uns als Menschen aus? Hat das alles eine Bedeutung oder sind diese Zufälle bloß das, Zufälle, oder vielleicht doch eine Form von Déjà-vu?
Ich muss gerade an eine Beschreibung in Elizabeth Gilberts Buch Big Magic denken, in der sie erzählt, dass Ideen wie Wolken vor uns auftauchen. Wenn wir sie nicht ergreifen, ziehen sie weiter, erscheinen anderen, die sie vielleicht mit wachem Blick erkennen und einfangen. Vielleicht ist es mit zwischenmenschlichen Begegnungen nicht anders: Chancen streifen uns wie ein Windhauch, manchmal fassen wir nach ihnen, manchmal lassen wir sie vorüberziehen. Ob das richtig oder falsch war, werden wir nie wirklich erfahren. Außer es handelt sich um eine Liebesgeschichte – dann merken wir früher oder später natürlich schon, ob wir uns in die falsche Person verliebt haben.
Eure Niki