Sonntag, 10:32. Ich laufe hektisch durch die Wohnung. Das Papier wackelt hin und her, die Ränder knicken unter dem Druck der Finger. Ich werfe einen Blick auf die Liste. Wasserflasche – check. Notizblock – check. Drunter: „Bitte zwei Stunden davor nichts essen.“ Mein Magen knurrt, das letzte Mal habe ich um 8:31 einen Chai-Keks verdrückt, der genau wie Shortbread schmeckte. Das Resultat einer Mitternachtsbacksession (und des Cookie-Rezepts à la Taylor Swift). Passiert immer, wenn ich nicht schlafen kann. Gemütliche Kleidung, also eine Adidas-Jogginghose und ein Sport-Hoodie – check. 10:34. Fuck, denke ich, als ich am Spiegel vorbeigehe. Ich muss mich beeilen, aber die Haare sind noch nass und total verfilzt, nicht mal mit dem Tangle Teaser komme ich ohne große Mühe durch. Vielleicht muss ich doch den Kamm von der Originalmarke kaufen und nicht nur die billige Nachmache von DM. Ich sehe meine Frisörin vor mir, wie sich ihre Stirnader bewegt, während sie mir vorwurfsvoll versucht beizubringen, dass ich bei meiner Haarstruktur doch alle drei Monate zu ihr kommen müsste. Ich verspreche ihr, mich daran zu halten, obwohl ich genau weiß, dass sie sich nicht darauf verlassen kann. Wie denn auch? Zurzeit kann ich mich nicht mal auf mich selbst verlassen. Ich setze eine Mütze auf.
Die kühle Luft umringt mein Gesicht, wie in Stilettos tanzt der Wind auf meinen trockenen Wangen. Ich spüre den Herbst bis in die Knochen. Im Hintergrund: nur das Läuten der Kirchenglocken und Autolärm. Plötzlich fällt mir der Traum von letzter Nacht ein. Keanu Reeves und ich sind in Italien. Er sitzt in der Ecke beim Fenster und kritzelt am mahagonifarbenen Schreibtisch irgendwas auf ein Blatt Papier. Die Spitzen seiner rabenschwarzen Haare streifen sanft seine Schultern. Das ist der Keanu aus John Wick. Bin ich schon zu alt für den Speed-Keanu? Ich versuche, mich daran zu erinnern, wann ich das letzte mal bewusst an ihn gedacht habe. Muss Monate her sein. So ein Kindheitscrush bleibt wohl für immer im Unterbewusstsein. Was steckt denn noch alles drin, in diesem Unterbewusstsein? Gruselig der Gedanke, also kehre ich ihn weg wie der Mann die braunen Blätter vom Gehsteig. Zwei Kleinkinder im Zwillingskinderwagen werden mir fröhlich vor sich hin lachend entgegengeschoben. Ich suche nach der kindlichen Freude in mir und finde ein Imitat davon, als ich vier grüne Ampeln hintereinander erwische.
Ich komme atemlos, mit laufender Nase und verspannten Schultern im Studio an. Die Kursleiterin mit sanften braunen Locken mustert lächelnd mein ungeschminktes Gesicht und stellt sich vor.
„Du bist zum ersten Mal hier, oder?“ fragt sie.
Eine Frage, in der sie schon eine Antwort für sich definiert hat.
„Im Studio nicht. In diesem Kurs schon.“
„Wir legen bald los. Mach es dir gemütlich.“
Ich nehme Platz auf der Matte. In den Raum mit der schönen Deckenverzierung passen maximal zehn Leute. Rechts neben mir sitzt eine junge Frau mit kurzen blonden Haaren, wahrscheinlich in meinem Alter. Als ich sie anschaue, fällt mir auf, dass mir als erstes die Haare anderer Menschen ins Auge stechen. Sarah, stellt sie sich vor und lächelt mich an. Sie hat schöne Zähne. Sarah trägt schwarze Leggins und einen kuscheligen Wollpullover. Ihre Aura fühlt sich ebenfalls kuschelig an. Vorne links mit einer Teetasse in der Hand sitzt ein Mann in grüner Stoffhose. Er spricht so schnell, dass ich seinen Namen nicht verstehe, aber mich dazu entscheide, nicht nachzufragen. Er ist sichtbar aufgeregt, bewegt hektisch den Kopf und hat Redebedarf, den Sarah zum Glück stillen kann. Wir sind nur drei Leute. Ich werfe immer wieder ein paar Halbsätze rein, genieße es aber, nicht sprechen zu müssen. Es scheint die beiden nicht zu stören, sie bauen mich trotzdem in ihr Gespräch mit ein, signalisieren mit ihren Blicken, dass ich Teil der Kleingruppe bin. Ohne dass ich etwas dafür tun oder mir erst diese Position verdienen muss. Ich frage mich, ob es an mir liegt oder daran, dass wir nur zu dritt hier sind. Ich habe vergessen, wie gut es sich anfühlt, mich nicht anstrengen zu müssen.
Die Kursleiterin zählt körperliche Symptome auf, die während des Workshops auftreten können: Muskelzucken, Schwindelgefühl, Kribbeln oder Taubheitsgefühl in den Händen und Füßen. So würden innere Blockaden gelöst werden und verdrängte Emotionen freigesetzt. Manchmal verfalle man in einen starken medidativen Zustand, sodass die Wahrnehmung sich verändern kann. Okay. Dann erinnert sie uns noch mal an die Teilnahmebedingungen, die sie bereits in der Mail mitgeteilt hat. Man solle lieber nicht mitmachen, wenn man schwanger ist, in den letzten sechs Monaten operiert wurde oder Herzbeschwerden hat. Herzschmerz hat man doch immer ein bisschen? Das sage ich aber nicht, sondern wackle brav verneinend mit dem Kopf.
Es war nicht geplant, dass ich hierher komme. Als meine Sonntagspläne ins Wasser fielen, suchte ich widerwillig und auf der Couch eingekuschelt online nach einer neuen Beschäftigung und stieß dabei auf den extern organisierten Transformative Breathwork-Kurs im Pilatesstudio, wo ich ohnehin regelmäßig hingehe. Online las ich: Der Atem ist das einzige Element, das unsere unbewussten und bewussten Funktionen im Körper verbindet. Durch bewusste Atmung können wir beginnen, unser Unterbewusstsein bewusst zu steuern. Ich weiß nicht, ob ich alles verstehe, was ich hier lese, aber ich habe seit Kurzem wieder das Gefühl, von meinem Körper etwas dissoziiert zu sein. Verkopft ist wahrscheinlich die bessere Art, es zu beschreiben. Vor einer Weile sagte ich zu meiner Therapeutin, als sie sich noch an meinen Lieblingstee erinnerte (Ingwer-Orange), dass mir Gespräche eigentlich nicht wirklich was bringen, weil ich ohnehin sehr reflektiert bin und dazu neige, meine Erkenntnisse zu intellektualisieren. Viel wichtiger ist es für mich, auf die Gefühlsebene zu kommen. Und wie macht man das? „Probieren, probieren“, sagte sie bloß. Also hab ich probiert, probiert. Zum Singkreis zu gehen und anderen Menschen minutenlang in die Augen zu starren, hat geholfen, aber auch nicht nachhaltig. Öfter als mir lieb ist, sehe ich mich von außen. Dieses Bild kommt auf: Ich bewege mich durch die Welt wie ein Sticker in Menschengestalt, die klebrige Seite nach außen gerichtet, bereit, alle fremden Gedanken, Ideen und Meinungen an mir haften zu lassen und sie ungefiltert aufzunehmen. Was davon ist jetzt meins? Und was ist von der Dame im grauen Mantel, die laut vor sich hinschimpft, als sie durch ein Magazin an der REWE-Kasse blättert? Schwer zu sagen. Also entferne ich mich wohl unbewusst von all den Eindrücken und offensichtlich auch von meinen eigenen.
Der Breathwork-Workshop, so las ich, soll mir helfen, mehr ins Gefühl zu kommen und meinen Körper besser zu spüren. Der Gedanke, richtig atmen zu lernen, scheint zuerst absurd zu sein. Das kann doch jede:r? Wir atmen ja immer, sogar ca. 20.000 Mal am Tag — ohne Atem kein Leben. Ich recherchierte, was es damit auf sich hat. Atemübungen gibt es seit Tausenden von Jahren, und Kulturen auf der ganzen Welt haben ihre eigenen Praktiken entwickelt. Grundsätzlich geht es darum, den Atem als ein Instrument zu sehen, das man aktiv nutzen kann. Je nach dem, was man erreichen möchte, ob entspannter oder energiegeladener zu werden, unterscheiden sich die Methoden in Intensität und Tempo. In der Süddeutschen stand, dass wir nur 30 Prozent unseres Atemvolumens nutzen. Was es da wohl noch alles zu entdecken gibt?
Bevor wir beginnen, werden wir dazu aufgerufen, eine Orakelkarte zu ziehen. „Manchmal teilen sie uns etwas mit, was wir in dem Moment hören müssen“, sagt die Kursleiterin. Ich ziehe die Karte Nummer 19: Buffalo. Im Info-Büchlein gibt es dazu drei Seiten zu lesen, wofür wir gerade keine Zeit haben, also fotografiere ich sie schnell ab und lege das Handy in meinen Beutel.
Ich breite mich auf der Matte aus, setze eine Augenmaske auf und ziehe die beige Stoffdecke bis zur Brust hoch. Wir sollen, dem Rhythmus der Musik folgend, mit offenem Mund wie durch einen Strohhalm langsam und so tief es geht in den Bauch einatmen, und dann wieder durch den Mund, etwas abrupter, wieder ausatmen. Das klingt eher wie ein Seufzen. Die Musik ist schwungvoll und soweit ich das beurteilen kann, trommelt die Kursleiterin live mit.
Am Anfang fühlt sich die Übung sehr unangenehm an. Mir ist schwindelig, mein Mund wahnsinnig trocken, sodass ich immer wieder husten muss und mich deshalb schlecht fühle, weil ich niemanden stören will. Die anderen beiden Teilnehmenden höre ich kaum – sind sie da und atmen sie überhaupt? Ich bin stark darauf fokussiert, alles „richtig“ zu machen, bis mir auffällt, wie doof das doch ist. Als ich merke, dass ich nicht im vorgegebenen Tempo mithalten kann, passe ich mich meinem eigenen Rhythmus an. Kurz darauf schaffe ich es, in eine tiefe Meditation zu kommen. Die Musik nehme ich nur noch vage wahr, ich bin angenehm entspannt und dennoch bei Bewusstsein. Ich habe mich an das Atmen durch den Mund gewöhnt, und es hat sich eine gewisse Routine eingestellt. In der letzten Phase, nach ca. einer Stunde, in der wir aufgefordert werden, wieder zu unserem natürlichen Atemrhythmus zurückzufinden, liege ich eigentlich nur rum und habe plötzlich wahnsinnigen Hunger. Vor meinem inneren Auge taucht das Bild einer großen Pizza Margherita auf. Ich beobachte, wie das Öl in feinen Tropfen herunterläuft und der Käse über den Rand quillt. Ob das auch Teil der Erfahrung ist? Dann denke ich daran, dass es ja mittlerweile fünf Stunden her ist, dass ich gegessen habe. Ich liege ab da ca. eine halbe Stunde schmunzelnd auf dem Boden und tagträume von meiner Pizza, von draußen höre ich Kinder und Menschen vorbeilaufen. Ganz ausblenden kann ich sie nicht mehr.
Nach insgesamt anderthalb Stunden strecke ich mich und öffne langsam meine Augen, das grelle Licht brennt unangenehm darin und ich brauche einen Moment, um mich an die Helligkeit zu gewöhnen. Mein Körper fühlt sich leicht an und ich bin irgendwie erfrischt. Die Kursleiterin lädt uns dazu ein, unsere Erfahrungen zu teilen. Der Mann meldet sich als erstes: „Ich will ja immer reden, also gern“. Er sagt in vielen Sätzen eigentlich nur, dass er alle Symptome verspürt habe, aber nichts Außergewöhnliches passiert sei. Sarah erzählt, die Übung habe sie entspannt, was sie freue, weil sie ein sehr hektischer Mensch sei und sich von den Emotionen und der Laune anderer schnell mitreißen lasse. Das überrascht mich, denn sie wirkt gar nicht hektisch, eher wie Pasithea, die griechische Göttin der Ruhe (hab gerade extra nach ihrem Namen gesucht!). Ich beschließe, von meinem Pizza-Abenteuer zu erzählen und alle lachen. Nett von ihnen.
Grundsätzlich bin ich danach auf jeden Fall geerdeter, mehr bei mir. Auch wenn ich mich während der Übung großteils benebelt gefühlt hab, bin ich jetzt klarer im Kopf. Bevor ich aber davon ausgehe, ein neues Heilungsmittel für bewusstes (Er)Leben gefunden zu haben, erinnert mein rationales Ich mich daran, dass ich meinem Körper gerade ulta viel Sauerstoff zugeführt habe und ohne Ablenkung zu meditativer Musik 90 Minuten lang gechillt habe. Zurück im Flur bedanken wir uns für die Erfahrung und die Kursleiterin informiert uns, dass sie nächste Woche wiederkommen würde, falls wir erneut teilnehmen möchten. Ich nicke freundlich und will los, da fragt sie mich, ob sie mir ihre PayPal-Daten noch mal ansagen soll, da ich kein Bargeld dabeihabe. „Nein, hab alles aufgeschrieben“, antworte ich und wünsche ihr und dem Mann, der beginnt, sie mit Fragen zu bombardieren, noch einen schönen Sonntag.
Sarah und ich laufen kurz gemeinsam die Straße entlang, reden über dies und jenes. Draußen scheint die Sonne und in mir steigt gute Laune auf. Als sie zur Tram nach rechts abbiegt, rufe ich ihr zu: „Lass dich nicht stressen!“ Sie lacht und antwortet: „Vielleicht sieht man sich mal wieder!“ Wer weiß, man begegnet sich bekannterweise immer zwei mal im Leben. Ich sehe ihr kurz nach, bevor ich meinen Weg zu Fuß nach Hause fortsetze. Ich lese auf den abfotografierten Seiten am Handy nach, was es bedeutet, eine Büffel-Karte gezogen zu haben.
Zusammengefasst soll ich ins Mindset der Fülle und Dankbarkeit kommen und schön meine Wünsche und Träume manifestieren. Außerdem soll ich mehr beten und Pfeife rauchen. Das soll mir und meinen Mitmenschen was bringen, weil der Tabakrauch der Lakota-indianischen Tradition nach heilig ist. Überhaupt soll der Büffel das heiligste Tier sein. Lustig, denke ich, weil ich im Sternzeichen Stier bin. Ahaaaaa! Ich freue mich wie jemand, der gerade etwas Wichtiges entdeckt hat. Ich recherchiere danach weiter zu Breathwork und stolpere in einem Online-Zeitungsartikel über ein Zitat von einem Arzt, der sagt, dass der Körper den Atem ohnehin automatisch reguliert und man mit dieser bewussten Steuerung, also mit Breathwork, in seinen natürlichen Prozess eingreift und ihn aus der Balance bringt. Ich denke kurz darüber nach. Ob ich jetzt weniger verkopft bin oder mich transformiert fühle, kann ich nicht sagen. Etwas mehr ausbalanciert fühle ich mich aber schon. Außerdem habe ich mal wieder realisiert, wie geil Pizza ist (super hab ich sie manifestiert), als ich später zu Hause eine verdrückt habe. Himmlisch hat die geschmeckt und mich so richtig schön gefüllt. 25 Mäuse für diese Erkenntnis. Aber es war es wert!