Es begann mit Regen, der so stark runterprasselte, dass es sogar in der Seele weh tat. Launisch schoss er los, hörte zehn Sekunden später wieder auf, bevor das Autodach (und unsere Ohren) seinen nächsten Ausbruch abbekamen. Ein Wagen, darin fünf Leute mit Erwartungen und einem Ziel: die steile Straße voller Schlaglöcher zur Casa d’era rauf zu kommen, wo wir die nächsten sechs Nächte verbringen würden. Ein Familienurlaub mitten in den toskanischen Hügeln.
Spätabends schob ich den Koffer über den Pflasterweg Richtung Haus und hielt schließlich vor der Tür unseres Apartments, neben welcher auf der Ziegelsteinfassade ein Schild mit dem Namen Aida hing. Ich ließ das Gepäck vorne stehen und machte eine Runde ums Gebäude, in dem mehrere Wohnungen untergebracht waren: Nabucco, Rigoletto, La Bohème, La Traviata, Tosca, Norma. Ich googelte nach dem (stark zusammengefassten) Inhalt von Aida. Die Tochter des äthiopischen Königs muss als Sklavin am ägyptischen Hof leben. Später stirbt sie gemeinsam mit dem ägyptischen Feldherrn Radamès in einer Gruft.
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Aber es ist ja nicht so, als würden die anderen Gäste unter einem glücklicheren Stern schlafen. Was hat es eigentlich auf sich damit, dass Opern immer tragisch enden müssen?
Die Unterkunft hatte einen Ziegelboden, eine Holzbalkendecke und erstreckte sich über zwei Etagen mit drei Zimmern und zwei Bädern. Der untere Bereich mit Küche hatte kein Fenster, nur einen Glasausschnitt in der Tür, der mit einem Vorhang bedeckt war. Der Raum war kühl und dunkel, und mein Verlangen, nach draußen zu gehen und den Blick über die Olivenhaine und die mich an Grünkohl erinnernden Hügel schweifen zu lassen, entsprechend groß (kaum in Italien angekommen, und schon kommen die ersten absurden Essensreferenzen).
Die nächsten Tage schien draußen wieder die Sonne und in mir die Abenteuerlust. Viel wusste ich über die umliegenden Orte nicht, bis auf Volterra, Florenz und Siena wollte ich alles spontan erkunden, ohne durchgetakteten Ablauf. Wo auch immer ich hin soll, dort würde ich hinfinden. Zum einen in die mittelalterliche Gemeinde Peccioli, den Geburtsort der schrulligen Rezeptionistin Lara, die wie ein Pilz aus dem Nichts aufploppt und nach deinem Namen ruft. „SÃ, sÃ, the City-Tax please.“ Ja, ja. In Peccioli feuerten wir neben einer stolzen Nonna und ein paar emotionalen Zios die Radfahrer des Giro della Toscana an. Vor allem den allen hinterher radelnden Teilnehmer vesuchte ich mit meinem Geschreie zu motivieren. Völlig verschwitzt und fertig radelte er die steile Straße rauf, um die anderen einzuholen. Mit jedem „Woo“ brennte es mir ein bisschen mehr in der Brust. Das Sonderlingsgefühl kenne ich zu gut.
Als wir im charmanten Lajatico mit gerade 1300 Einwohner:innen standen, realisierte ich ziemlich schnell, dass es der Geburtsort von Andrea Bocelli ist. Die Spuren des berühmten Sängers sind in dem Ort überall zu finden. In der Via Volterrana steht die Andrea Bocelli Foundation und an einer Straßenecke begegnete ich seiner Statue, die ihn lächelnd (wie seltsam sind bitte Statuen mit eingeschnitzten Zähnen?) und mit geneigtem Kopf in der Rolle des Cavaradossi aus „Tosca“ zeigt. An der Strada Provinciale betraten wir das Officine Bocelli, das Restaurant der Familie Bocelli, die in Lajatico Landwirtschaft und Weinbau betreibt. Bocelli Overload ist milde ausgedrückt: Es gibt Bocelli-Weine (frisch, fruchtig und geht runter wie Öl), an den Wänden hängen Bocelli-Fotografien, im Bocelli-Shop gibt es Bocelli-Trüffel, Bocelli-Kekse und Bocelli-Marmelade, aber auch Bocelli-CDs, Bocelli-Bücher, Bocelli-Stifte und von Bocelli signierte Notizblöcke. Mit seinem Gesicht drauf. Auf den großen Wandbildern posiert der Sänger mit silbernen Haaren stets grinsend und Arm in Arm mit irgendwelchen Leuten, im Nebenraum kann man ihn als Kind oder Teenager mustern. Meistens auf irgendeiner Farm oder mit den Pferden. Am auffälligsten ist das große Porträt, wo er auf einem auf den Hinterbeinen stehenden weißen Pferd sitzt, umringt von Menschen, die seine Reitkünste bewundern. Wir liefen daran vorbei, als die junge Dame uns zum Tisch führte, ohne nur einen Hauch von Frust zu zeigen, dass wir 20 Minuten vor der Eröffnung da waren. Sie begrüßte uns sogar mit einem Glas Prosecco und einer bean cream (den Namen hatte ich auch beim vierten Mal nicht verstanden), beides „a gift from Officine Bocelli“. Sehr großzügig diese Bocellis, dachte ich, bis der Nachbartisch ein Fischtartar „on the house!“ serviert bekam, gerade als ich mit meiner Bohnencreme fertig war und im Hintergrund Con Te Partirò lief. Vor, während, danach, praktisch in Dauerschleife. Ja, it’s time to say goodbye. To that song!
Die sechs Tage verschwommen zu einem, im Nachhinein weiß ich gar nicht mehr, wann wir was genau gemacht haben. Das etruskische Volterra, mit seinem gemütlichen Persio Flacco Theater, Alabaster-Werkstätten und leckerem Cappuccino, war angenehm und erdend, Florenz dafür ein überforderner Wirbel aus Kunst, Menschenmassen und Eindrücken. Wie der Klang der italienischen Sprache, die ich im Vorbeigehen häppchenweise aufschnappte, liefen bei mir im Inneren die Emotionen auf Hochtouren. Die starke Sonne brannte mir im Nacken, in jeder Seitengasse suchte ich nach Schatten, wollte der Stadt entkommen, doch sie holte mich ein und verlangte meine volle Aufmerksamkeit. Alles hier tanzte irgendwie aus der Reihe, wollte auffallen. Wie das mit Fruchtstückchen verfeinerte Zitronen- und Pfirsicheis, das mich aus der Eisdiele anglänzte. Oder die in den versteckten Mauerecken aufgemalten Bilder von dynamischen Alltagsszenen, in denen Frauen mit stylischen 20er-Jahre-Hüten und Obstschalen am Küchentisch arbeiteten. Oder der neben dem Duomo arbeitende Straßenmaler, der völlig nonchalant eine Taube auf seinem Schoß streichelte. Männer fuhren schreiend auf Fahrrädern durch die engen Gassen, wo Straßenkünstler mit Tenorstimme Bocelli (was sonst) sangen. Im Café tippte eine Frau mit solcher Hingabe auf ihrem Laptop, dass die Zigarettenasche immer wieder auf die Tastatur fiel – und sie schien es gar nicht zu bemerken. Bücher wurden auf Bänken vergessen, oder auch absichtlich liegengelassen, wie das eine mit dem rotem Cover, das Ditto la Neve hieß – entweder oder, ich weiß nicht, was schlimmer ist, aber hier spielte es keine Rolle. Als ich online danach suchte, gab es nichts dazu zu finden, als wäre es nie geschrieben worden. Als hätte ich mir dessen Existenz in der Mittagshitze ausgedacht.
Nach Florenz kam Cecina am Tyrrhenischen Meer. Ich ließ mich von den Wellen mitnehmen, schaukelte rauf und runter, wie ein Kind, das unbeschwert im Spiel versunken ist. Am Strand wippten die Sonnenschirme im Wind wie übers Wasser gleitende Möwen, um mich herum nur das sanfte, regelmäßige Schwappen des Wassers. Und eine Handvoll schreiender Kinder, deren Kreischen ich ausgeblendet hatte. Wie auch das krasse Jucken der dreißig Moskitostiche, das mich auf der Brust, den Beinen, Fußsohlen, Fingern, also praktisch am ganzen Körper quälte. Auch in der Seele quälte etwas. Da war es wieder, dieses Brennen. Aber auch das konnte ich ausblenden. Geht nicht immer, aber in dem Moment schon. Warum, kann ich auch nicht sagen. Als die Sonne allmählich tiefer sank, lehnte ich mich am Strand im Liegestuhl zurück. Ich nippte an der Zuckermelone, ließ den Saft mir über die Mundwinkel laufen und schaute hinüber zum Ufer. Dort hatte jemand aus Steinen ein paar beeindruckend realistisch aussehende Pilze gebaut und sie in einer Reihe aufgestellt. Ein kakaofarbiger Opa in schwarzer Speedo war so fasziniert, dass er sich richtig ins Zeug legte, sich also buchstäblich auf den Kieselsteinstrand hinlegte, um ein Foto davon zu machen. Das ist ihm zum Glück rechtzeitig gelungen, bevor ein Rettungsschwimmer das Meisterwerk ohne mit der Wimper zu zucken zerstörte. All good things come to an end, I guess. Inspiriert bestellte ich zu Mittag eine Pizza ai Funghi. Für einen blauen Strandkiosk mit weißem Schriftzug schmeckte die befriedigend gut, aber auch da hatte ich etwas Besseres erwartet. Eine Woche Italien und schon wurde ich zum Food-Snob.
Genauso snobbig fühlte ich mich bei der Weinverkostung im Azienda Agricola Castelvecchio, einem jungen, familiengeführten Weingut in Terricciola. Eine Stunde, fünf Weine und einen Grappa später begegnete ich dem größtmöglichen Glück: Massima Felicità – deren Limited Edition. Das Glück ist selten, vergänglich und offensichtlich in limitierter Menge vorhanden. Das haben die Italiener:innen verstanden, auch die Vermarktung davon. Die Bedeutung dieser Nachricht ist so dringlich, dass sie in Großbuchstaben auf die Weinetiketten gedruckt wurde. Nun gut, bitte gleich alle Flaschen einpacken, die Histaminunverträglichkeit wird ignoriert. Die freundliche Weingutsleiterin, die sich völlig ausreichend verständigen konnte, aber nach jedem Satz entschuldigend „Sorry for my English“ sagte, erklärte uns, dass jede Flasche aus der limitierten Edition mit einem anderen handgeschriebenen Zitat versehen ist. Ich ließ meinen Blick über le bottiglie an der Theke schweifen und suche nach einer, die ein neues Lebensmotto für mich bereithalten könnte. Le decisioni che prendiamo cambiano la nostra vita e diventano la nostra storia. – „Die Entscheidungen, die wir treffen, verändern unser Leben und werden zu unserer Geschichte.“ Ha, Selbstbestimmung, la massima felicità ! Das fühlte sich gut an. Sogar ohne Brennen in der Brust.