Die Bäckerin hat wieder mal vergessen, meine Mehlspeise einzupacken. Am Montag hatte ich im Shop um die Ecke eine Himbeertasche bestellt – eigentlich mag ich keine Himbeeren, wollte aber unbedingt etwas zum Kaffee dazu und das war das Einzige, was sie am späteren Nachmittag noch übrig hatten – und stellte dann zu Hause enttäuscht fest, dass nur die zwei weißen Kartoffelbrötchen es in die Tüte schafften. Na gut, egal, dachte ich, und ließ es gut sein. Am Mittwoch stand ich dann wieder dort und bestellte bei derselben Verkäuferin ein Schoko-Vanille-Hörnchen, das nach einem anstrengenden Arbeitstag in der Küche auf mich warten sollte, nur um abends schockiert zu realisieren, dass wieder kein Dessert dabei war.
Zuerst ärgerte ich mich über mich selbst, dass ich nach meinen Sportintermezzos scheinbar schon so in Gedanken wieder bei der Arbeit bin, dass ich nicht richtig darauf achte, ob die Dinge, die ich bezahle, mir auch wirklich eingepackt werden. Danach tat ich mein Bestes, um das Verhalten der Bäckerin nicht persönlich zu nehmen. Versucht, gescheitert. Ich ließ ihr Lächeln Revue passieren, suchte nach Sarkasmus-Spuren im „Hier hast du, Schätzchen“, analysierte ihre entspannte Fröhlichkeit und wie sie nach jeder Bestellung diese noch mal wiederholte, um mir zu signalisieren, dass meine Wünsche auch gehört werden. Alles Lügen!
Mit frischer Überzeugung, dass man sich in diesem Leben sowieso auf niemanden verlassen kann, nahm ich mein Schicksal selbst in die Hand und ging zum REWE, um dort einen Sack Äpfel zu kaufen. Zeit für Apfelkuchen! Einen richtig großen noch dazu. So habe ich für die ganze Woche genug, um meine süßen Gelüste zu stillen. Ich klopfte mir mental auf die Schulter und dachte an folgende Sätze, die sich wie Mantras in meinem Kopf abspielten: Ich kümmere mich selbst um mein Wohlbefinden, interpretiere jedes Hindernis als Möglichkeit, bin nicht von anderen Menschen abhängig, kreiere meine eigenen Genussmomente und sorge für Fülle im Herzen und auf den Hüften! Diese Art von Unabhängigkeit strebt doch jeder Millennial an. Wen interessiert es, ob ich ein Oktoberdessert an einem heißen Julitag backe? Berlin kann sich auch nicht entscheiden, ob es nun Sommer oder doch schon Herbst ist, also warum sollte ich? Die Stadt und ich sind launisch, und ich brauche Ablenkung. Dabei ist Apfelkuchen (oder Scharlotka, wie ichs von zu Hause kenne), dessen Duft mich an meine Kindheit erinnert, der verlässlichste Trostspender.
Beim Schälen der Äpfel denke ich daran, wie ich am nächsten Tag zur Bäckerin runter gehe, um sie auf ihren Fehler hinzuweisen. In meiner Vorstellung bin ich die perfekte Mischung aus Höflichkeit und Entschlossenheit. Ich mache einen coolen, legeren Eindruck, à la klar, kein Ding, passiert, aber nicht so entspannt, dass man dabei das Gefühl bekommt, ich ließe alles mit mir machen. Als ich glaube, das perfekte Szenario ausgedacht zu haben (die Bäckerin und ich lachen über den Fauxpas und sie schenkt mir als Entschuldigung einen Blaubeermuffin), widme ich mich voll und ganz den Äpfeln.
Ich denke an das Experiment (siehe Kolumne Alltagspoesie #1), das ich noch drei Wochen durchführen soll: meiner Umgebung mehr Aufmerksamkeit schenken. Ich nehme jedes Bild und Geräusch wahr, fühle den grobkörnigen Zucker und das feine Pulver des Zimts zwischen meinen Fingern. Die gesamte kommende Woche bleibe ich fokussiert und sauge die Welt um mich herum auf wie ein Schwamm. Es sind so viele Eindrücke, dass ich sie nicht alle auf einmal verarbeiten kann. Den perfekten Rhythmus gilt es noch zu finden, aber wie ich bald feststellen werde, wird es mit jedem Tag besser und etwas einfacher. Hier ein Ausschnitt.
Beobachtungen im Alltag // 01.7.-07.7.2024 (eine perfekte Kalenderwoche!)
Der cremige Teig löst sich langsam von der Spachtel und fällt sanft in die Schüssel, die bis zum Rand mit zimtig-zuckerigen Apfelstückchen gefüllt ist.
Eine Frau trägt einen genähten Strohhut mit schwarzer Schleife. Sie sitzt im Schneidersitz im trockenen Gras des Parks Friedrichshain und füttert das Dutzend Krähen, das sich um sie herum versammelt hat.
Es dämmert. Die Schatten der Äste hinter dem Fenster tanzen vor mir auf der weißen, unebenen Wand meines Schlafzimmers.
Auf dem Weg zum Sport bemerke und spüre ich Schläge unterschiedlicher Art: Birkenstocks gegen den heißen Asphalt, Herz gegen den Brustkorb, Volleyball gegen Handflächen und Sand, Trinkflasche im New Yorker-Beutel gegen die Hüfte, im Wind wehende Flaggen gegen die Markise.
Im Restaurant: Die Frau am Tisch daneben spricht laut und selbstbewusst. Alles an ihr glänzt: Haut, Fingerspitzen, Augen, Lippen. Der Mann gegenüber hat ein riesiges Loch im Ohrläppchen; er schweigt und starrt die Frau lächelnd an.
Nach dem Regen riecht die Luft nach warmer Erde und Gras, der stechende Duft dringt in meine Nase. Ich vergrabe mein Gesicht in meine Armbeuge.
Ein Klecks leuchtend roter Farbe zwischen den Pflastersteinen und auf dem Massivholztisch.
Mein Bewusstsein befindet sich irgendwo zwischen Schlaf und Wachsein. Ich höre: das Mahlen der Kaffeebohnen, Füße auf dem knarrenden Holzdielenboden, das Schleudern der Waschmaschine, das Quietschen der Küchentür, das schrille Klirren des Metallbestecks beim Zumachen der Schublade.
Drei Sachen, die meine Sicht trüben: Zigarettenrauch, Brillengläser beschlagen vom Dampf des heißen Fenchel-Tees, durch Gähnen verursachte Tränen.
Ihre schwarz lackierten Nägel glitten über das Buchpapier, beginnend am oberen rechten Rand und hinunter zur unteren Ecke, in einem Tempo, das ihrer Lesegeschwindigkeit entsprach.
Fazit nach Woche 2: Aufmerksam sein fühlt sich natürlicher an und ist nicht mehr so anstrengend, auch wenn ich, trotz Marie Howes Versprechen, immer noch keine Antwort gefunden habe. Aber zwei Wochen hab ich ja noch.
Was hast du diese Woche beobachtet?
Deine Niki