Vienna waits for you!
Ich bin am Wochenende in die Stadt meiner Jugend zurückgekehrt. Ein Auszug aus meiner Reise in die Vergangenheit.
Für einen Schreibkurs diese Woche habe ich ein paar Auszüge aus Annie Ernaux’ Memoiren „Die Jahre“ gelesen. Darin schreibt die französische Nobelpreisträgerin darüber, wie sie bestimmte Momente/Gerüche/Situationen/Gefühle/Orte etc. aus ihrer Vergangenheit festhalten möchte, um „etwas aus der Zeit zu retten, in die wir niemals zurückkehren würden“. Sie erwähnt zum Beispiel das Karussell im Kurpark von Saint-Honoré-les-Bains, eine Jukebox, die „die Apache“ in einer Bar am Tally Ho Corner in Finchley spielte oder den Mann in Schlafanzug und Hausschuhen, der jeden Nachmittag in der Lobby des Altenheims in Pontoise weinte. Dabei hielt er ein verschmutztes Stück Papier mit einer Telefonnummer hoch und bat die Besucher:innen, seinen Sohn anzurufen.
Ich dachte über diese Aufgabe nach, während ich am Donnerstagabend mit überkreuzten Beinen und offener Sushi-Packung auf dem Schoß von Berlin nach Wien fuhr. Ich war am Weg zu einer Verlobungsfeier, was mich ganz natürlich dazu verleitete, über das Erwachsenwerden nachzudenken. Denn, wisst ihr, Wien hat mich praktisch erzogen. Fünf Jahre habe ich dort gelebt, dreieinhalb davon studiert. Nach meinem Schulabschluss und einem sechsmonatigen Auslandsaufenthalt zog ich im Herbst 2011 von Tirol in die österreichische Hauptstadt. Ich hatte in Mittelamerika P. kennengelernt und mich super mit ihr verstanden, weshalb sie mich fragte, ob ich Lust hätte, eine WG mit ihr und zwei anderen Mädels zu gründen. Gefragt, getan. Die spontane Entscheidung fühlte sich aufregend an; ich wollte das Freiheitsgefühl, das sich während des Auslandsjahres in mir ausgebreitet hatte, aufrechterhalten, und sehnte mich nach einem Neuanfang. Vor allem aber war ich bereit, die Vergangenheit und deren Geister hinter mir zu lassen. Ich wollte herausfinden, was mich als Mensch abseits des Gewohnten ausmachte, wer ich war, wenn nicht “the new girl”, das neue Ausländerkind, das mit 13 Jahren nach Österreich kam.
Ich habe dieser Stadt auch viele meiner ersten Male zu verdanken. Dort habe ich nicht nur Freund:innen fürs Leben gefunden, sondern auch meine journalistische Karriere gestartet, mit den YouTube Tutorials von Laura Vitale Italienisch kochen gelernt (obwohl: eher probiert) und auch erfahren, wie es ist, mit zurückgezogenen und höchst enthusiastischen Menschen zusammenzuwohnen. Ich habe meinen unterentwickelten Orientierungssinn trainiert, mich ehrenamtlich engagiert, Sportkurse wie Rückenfit (es ist nie zu früh, Rückenproblemen vorzubeugen!) an der Uni Wien ausprobiert, mich auf überteuerten Halloween-Partys gelangweilt und zu viel Spaß mit den Nerds von der TU gehabt. Ich schwänzte fade Vorlesungen, um Vampire Diaries mit einer Mitbewohnerin zu bingen, färbte meine Haare rot, ging morgens in Pyjamahose und mit ungeputzten Zähnen in den kleinen Billa nebenan Orangensaft kaufen und stritt mit der eklektischen, Perücke tragenden Nachbarin, die unter Schlafproblemen litt und sich spätnachts ganz gruselig vor unsere Haustür stellte. Wien hat mich auseinandergerissen und wieder zusammengenäht, mir den Spiegel vors Gesicht gehalten und mich wieder in den Arm genommen. Ich habe dort geliebt, gestritten, gelacht, geweint, mich übergeben, getanzt, geklettert, gestampft und vor allem meine Spontaneität ausgelebt. Als ich dann meinen Studienabschluss in der Tasche und diverse Praktika abgeschlossen hatte, endete dieses Lebenskapitel auf eine natürliche Art und Weise. Ich wollte mich weiterentwickeln, wieder ins kalte Wasser springen, etwas Neues lernen. Vor allem wollte ich mich aber für einen Master in Journalismus bewerben, und das perfekte Programm dafür war in London. Nachdem ich an der Uni angenommen wurde und die Finanzierung dank eines Kredits für die Studiendauer gesichert war, zog ich dorthin, nicht nur, weil es beruflich die beste Entscheidung für mich war, sondern weil ich als Kind bereits davon träumte, die London Bridge zu sehen. (Ich war ein Riesenfan der Olsen Twins, und ihr Film London, wir kommen! entfachte meine Liebe für England.) Also zog ich im Jahr 2016 weg und war seitdem nur sporadisch in Wien – abgesehen von einem 10-monatigen Intermezzo im Jahr 2019, das leider mit einem großen Realitätscheck endete. Rückblickend war das wohl der Situation geschuldet: Nach vielen Auslandsaufenthalten fand ich mich in der Stadt meiner Jugend wieder, ohne Job und berufliche Perspektive, lebte in meiner alten Wohnung mit neuen und viel jüngeren WG-Mitgliedern und war fest davon überzeugt: Wien will mich nicht mehr. Die Stadt lehnte mich ab, duldete gefühlt keinen einzigen Fehler. Ich fühlte mich fremd und unverstanden, stellte also bald mal fest, dass ich mich auf Wien nicht mehr einlassen konnte und dort weg musste. Ich packte meine Sachen und zog nach Berlin, in der Hoffnung, von der „Stadt der verlorenen Seelen“ mit offenen Armen empfangen zu werden. Ob meine Erwartungen erfüllt wurden, enthülle ich ein anderes Mal.
Als ich also am Donnerstagabend sieben Stunden im Auto saß und über diese komplexen Gefühle nachdachte, erinnerte ich mich an diesen Textauszug aus Ernaux’ Buch. Welche Aspekte meiner Zeit in Wien will ich festhalten? Welche vergessenen Erinnerungen, die verstaubt in den verborgenen Ecken meines Gedächtnisses schlummern, sollen wieder zum Leben erweckt werden? Welche Menschen, die einst ein wichtiger Teil meines Alltags waren, möchte ich zurückholen, welche Gerüche oder Texturen erneut spüren? Hier ein paar Zeilen aus der „Liste meiner Lebensmomente in Wien“:
- Die unzähligen Stunden in der Nationalbibliothek, die wir „Nabi“ nannten. Kurz vor 9 Uhr eilte ich dorthin, um rechtzeitig einen Platz am Fenster zu ergattern. Denn es dauerte keine 10 Minuten, bis die fleißigsten Student:innen pünktlich zur Öffnungszeit durch die Türen strömten und die besten Plätze besetzten.
- Der erdige, stechende Grasgeruch im Burggarten.
- Der erste Weihnachtsbaum in unserer WG, den ich extra aus dem 22. Bezirk geholt und dann in der U-Bahn in den 4. Bezirk geschleppt hatte. Seitdem stellten wir jedes Jahr den Baum auf und schmückten ihn gemeinsam.
- Die angenehme Kühle der Badewanne in unserer Dachgeschosswohnung, in der ich mich vor der erdrückenden Nachmittagshitze im August mit einem Buch versteckte.
- Wie sich die Karlskirche in den frühen Morgenstunden, wenn der Resselpark noch leer ist, im Brunnen widerspiegelt.
- Die DVD von „Der Dritte Mann“, die ich mal von meinem Chef geliehen bekam, als ich als Studentin an der Rezeption eines Hotels arbeitete. Weil: „Das kann es doch nicht sein, dass Sie den Film noch nicht gesehen haben. Die Jugend von heute!“ Die DVD liegt bis heute unberührt in meinem Bücherregal. Ich habe diesen Klassiker immer noch nicht gesehen.
- Der Abend, an dem ich mich beeilte, „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ fertig zu lesen, um die Verfilmung bei der letzten Kinovorstellung um 22 Uhr im Burgkino zu sehen. Da habe ich gelernt, wie gern ich allein ins Kino gehe (auch wenn mir der Film nicht gefallen hat).
- Der White Russian, den ich mit einer Studienkollegin an einem verschneiten Freitagabend in einer Bar im 8. Bezirk nicht vertragen hatte und die ganze Nacht dafür büßen musste. Seitdem trinke ich keine cremigen Cocktails mehr.
Oder:
- Ernest Hemingway, mein Go-To Cocktail mit weißem Rum, den ich regelmäßig in der Bar „Santos“ in der Favoritenstraße in Wieden bestellte.
-„Sonnentanz“ von Klangkarussell. All summer long.
- Die Partys im Penthouse gegenüber unserer WG. Die Söhne ließen es richtig krachen, wenn die Eltern verreist waren.
- Das Baby des Nachbarn, das ich am Fenster im Haus auf der anderen Seite des Hofes gefühlt jede Woche größer werden sah.
- Die Bodentreppe in der Wiedner Hauptstraße, die aufs Dach führte. Der beste Platz, um den Sonnenuntergang zu sehen.
Als ich die Liste schrieb, fiel mir auf, dass viele der Momente zu meinem Alltag in Wien gehörten oder eine Art Ritual waren. Das fand ich spannend, denn ich habe viele Jahre meiner Jugend damit verbracht, nach Dingen im Unbekannten zu suchen. Ich sehnte mich nach der unentdeckten Sprache – in mir selbst und um mich herum –, strebte danach, Details im Groben zu entdecken, das Mysteriöse im Alltäglichen zu finden, das Unbeschreibliche beschreiblich zu machen. Einfach gesagt: Diese Liste hätte ich damals, als ich die Momente lebte, niemals niedergeschrieben oder als interessant oder wichtig empfunden. Doch seit Kurzem spüre ich in mir die Tendenz, diese „selbstverständlichen“ Dinge immer mehr in den Vordergrund zu stellen. Ich habe die Neugier für das Neue nicht aufgegeben. Ganz im Gegenteil. Jedoch werden die Momente des bereits Gelebten oder eben des Alltags immer wichtiger und der Drang, sich zu erinnern, immer stärker. Erkennen, beobachten, festhalten. Die Gesichtszüge meiner Mitmenschen, die ungewöhnliche Größe und Farbe des Mondes, das laute Brummen der Kaffeemaschine, die ersten Schneeflocken, der Bäcker meines Vertrauens, der mich schon beim Namen kennt. Vielleicht liegt die Besonderheit unserer Lebensmomente genau in ihrer Einfachheit und Wiederholung und nicht in ihrer Singularität. Vielleicht ist diese Erkenntnis auch einfach Teil des Älterwerdens, wenn uns die Vergänglichkeit des Lebens immer bewusster wird.
Eure Niki.