Es hätte ganz anders werden sollen.
In den letzten drei Wochen haben sich viele verschiedene Ideen für die Kolumne angesammelt. Ob lustig, traurig, sehnsüchtig oder nostalgisch – jede Stimmung war dabei, es juckte mir in den Fingern, es flatterte im Bauch, alles sollte raus, aufs Papier, zu dir, und trotzdem kam immer etwas anderes dazwischen: die Unverlässlichkeit der Deutschen Bahn, Krankheit und Arbeitsdeadlines, die sich wie wachsendes Gras um mich herum erheben und meine Sicht aufs Wesentliche versperren. In meinem Leben gibt es zurzeit nur Häufchen — benutzter Taschentücher, zusammengeknüllter Notizen, dreckiger Wäsche, nicht umgesetzter Pläne. Beruflich und privat kommt alles zusammen, wie es sich gehört. Und je mehr es zu tun gibt, desto größer und stärker wird die Lust, mich zu verkriechen. Denn im Grunde, hinter all dieser angelernten Verlässlichkeit, Proaktivität, Seriösität, Pünktlichkeit und Professionalität schlummert eine Tagträumerin. Manche Träume sind jahrzehntealt, andere frisch geboren. Als Kind habe ich lange in einer Parallelwelt gelebt, mit Bäumen gesprochen, mir spannende Beziehungsverhältnisse zwischen Menschen im Park ausgedacht, mich gefragt, welche Entscheidungen sie treffen und warum. Typisches INFJ-Verhalten halt. Warum mich mit der Realität zufriedengeben, wenn ich selbst entscheiden kann, dass es mehr zu entdecken gibt? Auch jetzt, wo alles zu viel wird, verspüre ich die Lust, den Arbeitssessel zurückzuschieben, alle Verpflichtungen liegenzulassen und abzuhauen. Mein letzter Eintrag in der Suchchronik auf Google lautet: “Summer job on an organic farm, Italy”. Eine Bekannte hat mir letztens davon erzählt und alle Antennen gingen bei mir hoch. Schon sah ich mich das Handy in den Fluss schmeißen – aus dem Kopf raus und in den Körper hinein sozusagen. Ich will meine Hände dreckig machen und nackte Fußsohlen auf der Erde spüren. Ich will, dass die Fenster zu den Weinbergen und Olivenhainen, die sich unter der warmen mediterranen Sonne erstrecken, hinausschauen. Es soll nur Grenzen dieser Art geben: um die Schönheit der Natur zu umrahmen, den Blick auf sie zu wenden. Ich will vom Klang der Vögel und nicht von digitalen iPhone-Melodien geweckt werden, den Duft frischer Pflanzen riechen, selbst geerntetes Gemüse kochen, lokalen Wein süffeln, an Wochenenden die nahegelegenen, in goldenes Licht getauchten Dörfer entdecken. Und wenn der Herbst an der Türschwelle steht, wenn sich die Bäume wieder an Farben erfreuen, möchte ich nach Schottland reisen, auf die Isle of Skye und an ihren zerklüfteten Küsten und in den süßen Fischerdörfern wieder atmen lernen. Ja, das möchte ich. Was möchtest du?
Das ist eine schöne, romantische Vorstellung. Aber es ist ja nicht so, als gäbe es in der Realität nichts Traumhaftes zu erleben. Vergangenes Wochenende zum Beispiel reiste ich nach Wien, um meine liebe Freundin P. bei der Anprobe ihres Hochzeitskleides zu begleiten. Ja, doch, das war genauso klischeehaft und großartig, wie man es aus den amerikanischen Rom-Coms kennt: mit spritzigem Sekt, vielen Wows, Jas und vergossenen Tränchen. Ich hatte einen Termin im Elfenkleid in Wien gebucht (eine Filiale gibt es übrigens auch in München), einem kleinen Laden bekannt für schlichte und moderne Brautkleider. Die Elfen hinter der Idee sind die Designerinnen Sandra Thaler und Annette Prechtl, die im Store ihre Liebe zu zeitloser Eleganz verwirklichen. Als P. und ich früher in einer WG in der Wiedner Hauptstraße wohnten, liefen wir des Öfteren am Shop in der Margaretenstraße vorbei und schwärmten von ihren schönen Designs. Einen Anlass, diesen zu betreten, gab es damals nicht – diesmal aber schon.
Der Anblick war zauberhaft, das Glücksgefühl saß tief. Es führte mich auf eine besondere Reise durch 13 Jahre Freundschaft, die viele geografische Hürden und persönliche Umstände überstanden hat. Es gibt wenige Personen, die dich Kapitel für Kapitel durchs Leben begleiten und dabei Protagonist:innen bleiben. Die nicht für einen ganzen Abschnitt verschwinden, sondern trotzdem da sind, auch an Momenten, an denen du nichts Interessantes oder Spannendes zu erzählen hast. Denke ich daran, was für ein halber Mensch ich war, als ich ihr damals in Graz zum ersten Mal begegnet bin, so erkenne ich mich selbst nicht wieder. Nur der Klang ihrer Ohrringe bleibt im Gedächtnis sowie der Geruch des braunen Rauleders ihrer Tasche, die sie jeden Tag trug. Und da stand sie nun letzten Samstag vor mir, über ein Jahrzehnt später, als erwachsene Frau, so entschlossen und in Weiß. Und dieser Anblick ist mindestens genauso schön wie eine italienische Farm oder eine schottische Küstenlandschaft. Sogar ein ganzes Stück echter.
Eure Niki
P.S. Habe spontan experimentiert und die Kolumne aufgenommen. Natürlich mich zum Schluss 2x versprochen. Das Motto des Newsletters heißt ja nicht umsonst: Immer Passion, niemals Perfektion!