Um weise zu werden, muss man in den Abgrund springen
und den Weg des größten Widerstands gehen
Letzten Dienstagabend war ich mit Cathi, die aus London für einen Job nach Berlin kam und bei mir übernachtete, bei der Premiere von Miriam Steins neuem Buch Weise Frauen. Die Journalistin sprach darüber, wie sie Frauen auf der ganzen Welt begegnete, um weibliches Wissen zu erforschen, das generationenlang vom Patriarchat unterdrückt und als irrelevant abgetan wurde. Sie resümierte: Ob Heilerinnen, Hebammen, Wissenschaftlerinnen, Schamaninnen oder Köchinnen – in einem generationenübergreifenden Feminismus liegt immenses Potenzial, ihre Weisheit in unser Leben zu integrieren.
Während ich in der letzten Reihe des Pfefferberg Theaters gegen den schiefen Samtsitz und meine bleierne Müdigkeit ankämpfte, ließ ich keine Weisheit unnotiert. Ich tippte jeden zitierwürdigen Satz ins Handy ein, der mir, wenn nicht sofort, dann irgendwann später zu einem unerwarteten Zeitpunkt – wahrscheinlich unter der Dusche oder beim Staubwischen – einen Aha-Moment schenken könnte. Jeden Ratschlag, der wie die perfekte letzte Drehung eines Zauberwürfels das Chaos in meinem Kopf ordnen und das Leben leichter wirken lassen würde. Oder so zumindest den süßen Schein erwecken könnte, als hätte ich gerade den Jackpot geknackt.
Am Sonntagabend, während ich Discokugeln bzw. zukünftige Weihnachtskugeln aus Styropor und winzigen Spiegelmosaiksteinen bastelte, dachte ich an so einen Satz, der mir seit der Lesung auch ungeschrieben in Erinnerung blieb: Oft entscheiden wir uns dazu, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Doch um Weisheit zu erlangen, muss man manchmal in die Abgründe springen. Als ich geduldig die eckigen Steinchen auf die runde Kugel klebte und mich dabei freute, meine Hände für etwas anderes als Schreiben zu nutzen, versuchte ich, mir so einen Abgrund vorzustellen. Nebenbei lief eine Folge Grace & Frankie. In der Serie werden die beiden Hauptfiguren von ihren Ehemännern verlassen – ausgerechnet von zwei Scheidungsanwälten, die sich ineinander verlieben und heiraten wollen. Seit zwanzig Jahren führen Robert und Sol, die beiden Männer also, eine Affäre und fassen nun Mitte siebzig endlich den Mut, gemeinsam in den Abgrund zu springen und ihren Frauen die Wahrheit zu sagen. Weil sie zusammen alt werden wollen. Diese Entscheidung zwingt auch Grace und Frankie, wenn auch unfreiwillig, in den Abgrund. Die Frauen fühlen sich berechtigterweise hintergangen, doch finden sich im Laufe der Serie nicht nur in ihrer neuen Realität zurecht, sondern blühen darin sogar auf. Dabei stoßen sie auf längst verdrängte Facetten ihrer selbst und erkennen die alten Muster aus ihren Ehen, die sie unhinterfragt akzeptiert hatten. Beide Seiten erlangen auf diese Weise ihre eigene Weisheit – weil sie den Weg des größten Widerstands gegangen sind.
Wir Menschen haben diesen intrinsischen Drang, knifflige Situationen zu vermeiden, auch wenn es gut für uns wäre, sich ihnen zu stellen. Wir verdrängen, verstecken, verzögern und schieben weg, um diesem unangenehmen Gefühl zu entkommen, zumindest für eine Weile, bis uns das Leben wieder einholt und den Spiegel vorhält. Doch Weisheit bekommt man nicht, indem man Herausforderungen umgeht, sondern, wie Miriam bereits so eloquent sagte, indem man sie direkt angeht – auch zwei, drei oder vier Mal, so oft es sein muss. Es ist durchaus menschlich, die gut gemeinten Ratschläge anderer zu ignorieren, den gleichen Fehler immer wieder zu begehen, sich zu weigern, aus den eigenen Verrücktheiten und denen unserer Mitmenschen zu lernen, sich dann darüber zu ärgern, nur um später wieder in dieselbe Falle zu tappen. Manchmal fehlen uns der richtige Zeitpunkt, der richtige Ort, die eigene Einsicht oder eben die eines anderen, um den Teufelskreis zu durchbrechen und unsere Wahrheit nach außen zu tragen. So wie auch Rob und Sol, die 20 Jahre lang nicht wussten, wie sie ihre Liebe in Worte fassen sollten. So wie ich seit 10 Tagen die Nachricht meiner Therapeutin ignoriere, weil ich nicht weiß, wie ich ihr sagen soll, dass es mir gerade ohne Therapie besser geht. Oder, etwas tiefgründiger, wie ich meine ganzen Zwanziger damit verbracht habe, von einem Ort zum anderen zu ziehen, weil ich nach dem fehlenden Gefühl der Heimat suchte und es nirgends finden konnte. Ich werde jetzt nicht den universell bekannten und abgedroschenen Satz schreiben, dass das Zuhause in dir selbst zu finden ist. Denn ich finde, dass das Gefühl viel größer ist als wir selbst. Vielmehr geht es doch um die zwischenmenschlichen Beziehungen, um die Menschen, mit denen wir unsere Leidenschaften, aber auch unsere tiefsten Geheimnisse teilen können. Bei denen unser überlastetes Nervensystem runterfährt und wir butterweich werden – egal ob wir zu Hause Weihnachtsfilme schauen, die ganze Nacht durchtanzen oder ein ernstes Gespräch führen. Schwierig wirds, wenn wir genau diese Menschen auf unserem Findungsweg ungewollt verletzen und damit auch uns selbst. Es kann also alles so äußerst kompliziert werden, dabei versuchen wir doch nur alle, täglich unser Bestes zu geben, die Klippen des Lebens zu umschiffen und darauf zu vertrauen, dass das Leben uns trägt und in die richtige Richtung lenkt – selbst wenn es sich anfühlt, als würden wir in den freien Fall stürzen. Und wenn wir dann doch irgendwann das Gefühl haben, eine Weisheit reicher zu sein, geben wir sie weiter, damit sie von anderen Menschen, wie es sich gehört, ignoriert werden kann.
Miriam Stein entdeckte auf ihrer Recherchereise, dass besonders Frauen das Gefühl haben, sich erst befugt fühlen zu müssen, bevor sie ihre Weisheiten weitergeben. Das kenne ich zu gut, ich denke, die meisten von uns, haben in der einen oder anderen Form mit diesem Hochstaplersyndrom zu kämpfen. Dabei glaube ich auch, dass wir, und das geschlechterunabhängig, Weisheit zu eng fassen und dem Wort zu viel Exklusivität zuschreiben. Weisheit begegnet dir jeden Tag. Sie begegnet dir in diesem flüchtigen Stadium zwischen Schlaf und Wachsein, wenn der Morgen so porös und hauchdünn scheint, dass du glaubst, das Geheimnis des Lebens greifen zu können. Sie begegnet dir beim Nachhausekommen, wenn der zimtige Duft von selbstgebackenen Kürbismuffins dich nach dem Türöffnen empfängt und du dich augenblicklich angekommen fühlst. Sie begegnet dir beim schnellen Wocheneinkauf, wo eine Kassiererin dich besonders freundlich anlächelt und dir einen schönen Tag wünscht. Ob in Gesprächen mit Fremden oder Freunden, in Momenten der Stille, allein oder in Gruppen, im herabschauenden Hund oder beim Mailschreiben, in den Küssen oder Umarmungen, im Lebkuchen oder in den Zimtsternen. Manchmal auch in den selbstgemachten Discokugeln. Ob tiefgründig, banal, witzig oder verflüffend – Weisheit muss nicht immer philosophisch oder intellektuell sein. Sie hat unterschiedliche Facetten. Gestern Abend, als es draußen wieder düster war, ich gemütlich auf der Couch saß und eine Pizza mit Artischocken und Steinpilzen verdrückte, während im Hintergrund wieder eine Folge von Grace & Frankie lief, da dachte ich: Manchmal schmeckt sie sogar nach Käse und Komfort. In einer Szene sagte Frankie: „Heute habe ich ein weiteres Kilo zugelegt – aber es ist ein Kilo Weisheit.“ Ob ich dadurch ein Kilo schwerer bin oder nicht, dieses Stück Weisheit möchte ich dir heute weitergeben. Guten Appetit!
Deine Niki