Wenn du bei einer wichtigen Entscheidung zögerst, bist du vielleicht noch nicht bereit, sie von ganzem Herzen zu treffen.
Und das ist okay.
Seit Wochen liegt diese Kolumne unfertig in meinen Entwürfen, weil ich meine Gedanken nicht zu Ende denke. Dabei hatte ich mir vorgenommen, 2025 jede Woche zu veröffentlichen. Der Kopf läuft schon den ganzen Januar auf Hochtouren, der Motor wiehert, springt aber nicht an, und ich komm zwar immer wieder zum Text zurück, weil ich es nicht ausstehen kann, wenn Dinge halbfertig rumliegen, lass es dann aber doch sein, weil ich mich innerlich nicht mit dem Inhalt auseinandersetzen möchte. Ein Teufelskreis. Fast hätte ich mich entschieden, alles zu löschen und einen neuen Text zu beginnen. Da aber mein Schauspielkurs am Montag doch nicht stattgefunden hat, weil die Kursleiterin ohne Vorwarnung nicht aufgetaucht ist und die Gruppe eine halbe Stunde vor verschlossener Tür stand und sich gegenseitig „Da bin ich einmal pünktlich“-Blicke zuwarf, war auch dieses Thema für die Kolumne hinfällig (die Kursleiterin war krank und die Info hat uns nicht rechtzeitig erreicht). Aber dann schickte mir Nina am Freitag plötzlich eine Sprachnachricht und etwas machte Klick, sodass ihr diesen Essay hier nun doch zu lesen bekommt. Aber spulen wir mal einige Wochen zurück.
Wir standen am Parkplatz vor dem Spar in Rinn, die alten Wanderschuhe noch nass vom Rodeln, und umarmten uns zum Abschied. „Ich hab mich schon so daran gewöhnt“, sagte J. Sie meinte, dass sie sich daran gewöhnt hatte, mich in ihrer Nähe zu haben. Es war der 4. Januar und damit der letzte Abend meines 14-tägigen Aufenthalts in Tirol. Am nächsten Morgen würde ich zurück nach Berlin fahren.
Umgeben von idyllisch verschneiten Bergen und Wäldern wanderten wir zu viert zur Hütte in Maria Waldrast, tankten im Gasthaus auf (ich aß eine Gemüsesuppe mit Kasknödel) und liehen uns im Anschluss jeweils eine Rodel aus, weil es keinem von uns zumute gewesen war, sie selbst raufzuschleppen. Ich düste den Berg ohne Skibrille in 15 Minuten runter, während der Schnee mir ins Gesicht spritzte und zu Wasser in meinen Schuhen wurde. Unten angekommen, war es noch nicht mal 17 Uhr und ich hatte das Gefühl, schon drei Leben gelebt zu haben. Die Zeit verging wie im Flug und spannte sich gleichzeitig immer mehr auf. Wie das möglich war, kann ich auch nicht erklären.


Seit mittlerweile 14 Jahren kehre ich nur noch als Touristin in die Alpen zurück. Nach der Matura (Abi) ließ ich Tirol hinter mir und zog nach Wien. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich damals mit meinem kleinen, dunkelblauen Koffer am Innsbrucker Bahnhof stand. Das Herz sprang vor Aufregung beinahe aus meiner Brust, weil ich wusste, dass dieser Abschied endgültig sein würde.
Mit 13 war ich von Belarus nach Österreich gekommen und sah mich als Teenager plötzlich mit Herausforderungen wie Sprachbarriere, Kulturschock und unterdrückter Trauer konfrontiert. All diese Gefühle vermischten sich zu einem zähen Gebräu, das ich Tag für Tag hinunterwürgte. Nach Jahren ungelöster Gefühle wollte ich einfach nur an einen Ort, der frei war von den Erwartungen, die auf mir lasteten. Ich wollte dorthin, wo ich aufatmen konnte. Also ging ich von Tirol weg.
Seitdem komme ich zwei, höchstens drei Mal im Jahr zurück: zu Weihnachten und im Sommer. Jede Rückkehr ist verschleiert in Nostalgie, dieser ruhigen Sehnsucht, die sich wie Weltschmerz anfühlt. Es ist so, als würden die Emotionen, die jahrelang zwischen den Knochen unter der Haut schlummern, plötzlich erwachen und erstmal aus dieser neuen Situation schlau werden wollen: Warum bin ich wieder hier, was geht in mir vor? Wie erwartet kam auch dieses Jahr das Gefühl auf, aber es kam auch etwas anderes zum Vorschein.
In den zwei Wochen, die sich wie ein kurzes Leben anfühlten, machte ich Spaziergänge im Schnee, ging wandern und saunieren und schaffte es seit Langem wieder, die Zeit an mir vorbeiziehen zu lassen. Der Kopf war frei von Gedanken und die Lungenflügel gefüllt mit frischer Bergluft. Jeden Tag war ich draußen in der Natur, die mich wieder daran erinnerte, dass es auch Winter in meinem Leben geben kann, die weder grau noch depremierend sein müssen.



An einem dieser Tage schaute ich den Langläufer:innen zu, wie sie in himmlischer Ruhe die Loipen entlangglitten – und wollte mir dieses Vergnügen nicht entgehen lassen. Also stand ich am nächsten Vormittag im Leutascher Skiverleih. Die freundliche Dame an der Theke nahm meine Kontaktdaten auf (wenn auch etwas irritiert darüber, dass ich eine deutsche Telefonnummer, aber eine Tiroler Privatadresse hatte) und schickte mich in den hinteren Teil des Geschäfts, wo ich meine Ausrüstung bekommen sollte.
Ein Mitarbeiter machte die Schiebetür des Schrankes auf. „Klassisch oder skaten?“
„Klassisch“, antwortete ich.
„Schon mal ausprobiert?“
„Heute das erste mal.“
„Aber Skifahrerin, oder?“
„Snowboard.“
…
…
Die Ski waren federleicht, die Schuhe passten wie angegossen, und die Sonne brannte mir in den Nacken, als ich versuchte, mich in den richtigen Rhythmus reinzufühlen. „Tu die Stöcke etwas nach hinten!“ warf Thomas rein. Ein Licht ging auf. Das ist ja der Moonwalk in reverse! Wie Michael Jackson (in meinem Kopf zumindest) glitt ich auf Skiern die Loipe entlang, und mit jedem schnellen Schwung wuchs meine Lust, alle 245 Loipenkilometer zu durchqueren, die diese Region zu bieten hat. Kaum hatte ich den ersten Schuh ausgezogen, plante ich schon meinen ersten Sporturlaub und sah mich beim Ganghoferlauf im März teilnehmen. Thomas nickte nur: „Vielleicht 2026“.
Ein paar Tage später im Ruhebereich der Sauna las ich im zeit.los Magazin, das ich gedankenverloren beim Eingang mitgenommen hatte, Folgendes: „Langlaufen ist der Inbegriff des harmonischen Gleitens. Die Sportart ist zugleich meditative Bewegung und fordernder Ausdauersport“.
Vielleicht ist es genau das, was ich in Tirol erfahren habe: eine Meditation, die forderte und zugleich lebendig machte. Vielleicht lag es wirklich nur am Sport. Vielleicht auch am Urlaub, der strahlenden Sonne oder dem jeden Tag blau leuchtenden Himmel. Vielleicht waren es die Freundinnen, die ich lange nicht gesehen hatte. So oder so, ich wollte mehr davon. Ich schaute mir das Impressum des Magazins an — ob sie nach neuen Redakteur:innen suchen? Dabei malte ich mir schon mein neues, romantisiertes Leben in Tirol aus: Da ist die Szene, wo ich im Winter die Berge besteige, da ist eine, wo ich im Sommer nach Feierabend in einen See springe. Und hier an den Wochenenden mache ich Ausflüge zu Freundinnen nach Wien. So könnte ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ist ja klar.
J. fragte mich, ob ich ernsthaft je wieder zurückkehren würde. Ich konnte ihr keine eindeutige Antwort geben. Ich liebe Berlin. Ich liebe die Großstadt und wie sie mich zum Schreiben inspiriert. Ich liebe die kulturelle Vielfalt, die verschiedenen Sprachen, die ich im Vorbeigehen öfter höre als Deutsch, die Offenheit und künstlerische Freiheit. Denke ich an die politische Situation in Österreich, die einem Rubbellos ähnelt, bei dem man nur Nieten freilegt, wird mir übel. Bei diesem (mittlerweile mehr als bloß) aufkeimenden Rechtsextremismus, der sich auch in Deutschland, ja auf der ganzen Welt! mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitet, verspüre ich umso mehr den Wunsch, mich in meine Berliner Bubble zurückzuziehen.
Meine persönlichen und privilegierten Sehnsüchte fühlen sich angesichts dieser Realität wie Schreie eines launischen Teenagers an. Doch als ich in der Sauna aus dem Fenster auf die beleuchteten Häuschen schaute, kam trotzdem die Frage in mir auf, ob ich gerade davor bin, eine Lebensphase zu beginnen, in der ich Vertrautheit vor Aufregung stellen möchte. In der ich Freundinnen und Familie, die auch vor neuen Lebensabschnitten stehen, näher sein möchte.
Habe ich deshalb mit Tirol wieder geliebäugelt, nachdem ich es so lange aus meinem Kopf verdrängt hatte? Kann ich es, diesen Hunger nach der Welt und kunterbuntem Stadtchaos, der mich wie Elixir am Leben erhält, aufgeben, um mich gesettelter zu fühlen (was bedeutet das und bin ich das jetzt nicht?) Ist das denn genug? Muss ich das? Und will ich das überhaupt? Will ich Kinder und kann ich sie überhaupt (noch) haben? Und würden sie mich als Mutter haben wollen? Auch wenn die Gesellschaft von uns erwartet, dass wir es inzwischen wissen, habe ich selbst mit Anfang 30 noch keine Antwort auf diese Fragen gefunden.
Ich erzählte Nina, die in Wien lebt, in einer Sprachnachricht von meinen Gedanken, und sie sagte diesen Satz: „Natürlich würde ich mich freuen, wenn du in Wien oder irgendwo näher an Wien wohnen würdest. Aber ich komm dich auch überall anders besuchen.“
Manchmal merkst du erst, wie sehr du etwas hören wolltest, wenn dich jemand ganz unerwartet damit überrascht. Manchmal reicht es, wenn dir eine Freundin sagt, dass du ihr trotzdem wichtig bist, auch wenn du nicht um die Ecke wohnst und nicht spontan auf einen Kaffee vorbeischauen kannst. Und dass du, nur weil du diejenige bist, die weggezogen ist, nicht die einzige bist, die den Kontakt aufrechterhalten muss. Dass es eine two-way street ist, eine Verantwortung, die beide Seiten tragen. Und dass du die Menschen nicht unbedingt verlieren musst, wenn ihr euch gegenseitig um den Kontakt kümmert. Und dass es super ist, wenn du nach Jahren wieder zurückkehren möchtest, aber auch in Ordnung, wenn du dich dagegen entscheidest. Dass dein Leben, das du dir woanders aufgebaut und die Freundschaften, die du dort geknüpft hast, auch wertvoll sind. Wie du willst. Wie es sich richtig anfühlt. Schritt für Schritt.
Ihre Worte nahmen mir die Dringlichkeit weg, sofort eine Entscheidung treffen zu müssen. Ja, ja, die Uhr tickt, aber sie tickt auch im Frühling weiter, der eigentlichen Zeit für wegweisende Lebensentscheidungen. Nicht umsonst startete das Jahr bis vor 2.000 Jahren im März, bis Julius Cäsar den Jahresbeginn auf den 1. Januar verschob. Deswegen heißt übrigens der Oktober, der eigentlich achte Kalendermonat, so, weil octo auf Latein acht bedeutet (November: lat. novem für neun, Dezember: lat. decem für zehn).
Wenn ich schon diesen Januar nicht umziehe und keine großen Entscheidungen treffe, kann ich dafür meine Wohnung umgestalten, dachte ich. Also steckte ich meine Sehnsüchte ins Interieur und verbrachte die freien Feierabende damit, Homeworthy, House & Garden und Never Too Small Videos auf YouTube zu schauen, in denen hippe Designerinnen die Wände ihrer Pennsylvania Farms oder schicken Notting Hill Wohnungen in natural gray Farbe mit blue seafoam undertone bemalten. Suchtgefahr hoch 1000, muss ich schon sagen.
Inspiriert bestellte ich eine Stehlampe und eine Deckenleuchte, weil das Licht im Wohnzimmer zu dunkel ist, und nahm mit Thomas die Lichterkette runter, die schon seit vier Jahren im Wohnzimmer hängt. Dann maß ich den Flur aus, um die passende Teppichgröße zu finden, und tauschte den alten Kalender gegen die Sri-Lanka-Karte von 2018 aus, auf der Thomas und ich unsere Reiseroute eingezeichnet hatten. Was danach kommt, weiß ich noch nicht. Schritt für Schritt.
Als wäre es ein Wink des Universums las ich diese Woche in Suse Kaloffs Kolumne:„Vergiss nicht, dass das, was du heute hast, mal das war, wonach du dich gesehnt hast. So wie du dich jetzt manchmal nach Dingen sehnst, die du nicht hast.“ Momentan bin ich mir nicht sicher, welche meiner vielen Sehnsüchte die echte ist. Aber eines weiß ich: Wenn du bei einer wichtigen Entscheidung zögerst, bist du wohl noch nicht bereit, sie von ganzem Herzen zu treffen. Und who knows, vielleicht sieht beim nächsten Mal schon alles wieder anders aus. Fragt mich in der nächsten Kolumne wieder. Oder im März.
Eure Niki