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Es passierte irgendwo zwischen dem Kühlschrank, der mitten im Wohnzimmer stand, und dem runden Esstisch aus Massivholz, der den Weg zwischen Couch und Tür versperrte. Da schoss er mir in den Kopf, aus meinem tiefsten Unterbewusstsein, dieser wohlgeformte, mich auf den Boden der Tatsachen bringende Satz: Du hast mehr als genug. Entspann dich.
T. und ich verlegten am Samstag den neuen Bodenbelag in der Küche, da vier Wochen davor die Waschmaschinentür undicht geworden war und alles unter Wasser stellte. Erfahren habe ich davon auf eine ungünstige Art und Weise: von meiner Nachbarin, die um 8 Uhr morgens pausenlos gegen meine Haustür hämmerte. Weil mich ihre Zielstrebigkeit, die ich über die Jahre öfter als gewollt zu erleben bekam, mehr nervte als beeindruckte, beschloss ich, sie an diesem Morgen zu ignorieren. Ich war nicht wach genug, um mich mit dieser Person auseinanderzusetzen, die seit Jahren gemeinsam mit ihrem Partner „anonyme“ Drohungsbriefe in meinen Briefkasten schmeißt. Der Grund dafür ist mein „lautes Stampfen“, das, falls es nicht bald aufhört, selbstverständlich „ein juristisches Nachspiel“ haben wird. Meine Wohnung hat einen alten Dielenboden, da knarrt nun mal ab und zu was, und drüber schweben kann ich nicht, so leid es mir tut. Um meinen Koffeinbedarf zu stillen, betrat ich an dem Tag ahnungslos die Küche. Spätestens als ich mit den Socken ins Nasse trat, begriff ich das Problem. Das Wasser muss wohl durch die Rillen bis zu ihr durchsickert sein. Scheiße. Ich öffnete die Haustür, hinter der immer noch eine ungeduldige Nachbarin stand, und sagte: „Wir hatten einen kleinen Unfall. Ich muss mich zuerst darum kümmern, dann komme ich sofort zu Ihnen runter. Gut?“ Sie starrte mich verblüfft mit ihren weit aufgerissenen Augen an, das Blut nur so in den Adern pochend, und entgegnete mir ein genervtes Jaaa.
Ich holte etwa 20 Handtücher aus dem Schlafzimmer, legte sie alle auf den Küchenboden, sodass die gesamte Fläche bedeckt war. Dann schaute ich zu, meine Schulter gegen den Türrahmen gelehnt, wie sich das Wasser innerhalb von Sekunden in den Stoff einsog. Das ist er, dachte ich stöhnend, der Moment. Diese Bruchbude, dieses Scheißberlin, ihr könnt mich mal! Die Wohnung ist alt, die Holzdielen sind uneben und mein Optimismus zwar beharrlich, aber auch nicht ohne Risse.
Als T. und ich vor mehr als vier Jahren im bis zum Dach vollgepackten weißen Fiat nach Berlin zogen, waren wir naiv. Da wussten wir noch nicht, wie erbarmungslos der Wohnungsmarkt hier ist. Die Wohnungsnot wird immer größer, die Preise dafür höher. Du brauchst Glück, um eine Wohnung überhaupt anschauen zu dürfen, geschweige denn zu mieten. Vor einem Jahr kursierte ein Video auf Twitter, das zeigte, wie sich eine Warteschlange von bis zu 150 Metern Länge für eine Wohnungsbesichtigung bildete. Eine Stunde nachdem das Apartment inseriert worden war, kamen über 600 Anfragen rein. Drei Zimmer, 74 Quadratmeter, 1074 Euro warm brachten die 150 Menschen dazu, sich stundenlang bei vier Grad Außentemperatur, mit Bewerbungsmappe unterm Arm, die Knochen abzufrieren. Klingt krass? Ist aber alles andere als ein Einzelfall. Verzweifelt probiert man es immer wieder – die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Nach 10 Monaten in einer Wohnung mit (mehrmals verlängertem) befristetem Vertrag erzählte mir meine damalige Arbeitskollegin, dass ihre Freundin ein kleines Apartment beim Volkspark Friedrichshain vermietete. „Soll ich euch miteinander verbinden?“ fragte sie. Ich brüllte ihr nickend ins Gesicht, bevor sie den Satz zu Ende sprechen konnte. Ich sah mir die Fotos von der Wohnung an und wusste eigentlich sofort, dass T. und ich sie nehmen würden. Solche Chancen muss man ergreifen, für Pingeligkeiten gibt es keine Zeit! Außerdem hatte sie einen kleinen Balkon, was meiner Meinung nach die Wohn- und Lebensqualität in einer Stadt um 50 Prozent erhöht. Klar, als wir über die Türschwelle traten, machten sich die Mängel der Wohnung schnell bemerkbar: hellhörig, alter, abgenutzter Boden, vergilbte Wände, undichte Fenster…Das war mir aber egal. Nach fast einem Jahr Suche ist jede Möglichkeit ein Glücksgriff, und ohne Kontakte kommt man in dieser Stadt sowieso nicht weiter. Klar hätte ich gern ein Arbeitszimmer und würde mich lieber frei bewegen können, ohne mir jedes Mal ein Gejammer von unten anzuhören, wenn der Stuhl über den Boden schleift. Ja, ich höre meine Nachbarn in ihrer Wohnung jammern. Einmal schimpften sie in ihrem Wohnzimmer: „Mann, die Ballermann-Familie ist wieder da!“ Ja, doch, zum Erzählen ist es auch irgendwie lustig. Als ich dann nach der Eskapade mit der Waschmaschine übrigens zur Nachbarin runterging, stellte sich schnell heraus, dass es sich zum Glück um keinen richtigen Wasserschaden handelte, sondern nur um ein paar Wasserflecken, die schnell wieder trocken waren und mit einem Kübel geschenkter Farbe schnell übermalt werden konnten. Ich fühlte mich erleichtert und ein bisschen schlecht, dass ich meinen Frust an der Wohnung ausgelassen hatte. Denn eigentlich liebe ich meine Wohnung. Wirklich sehr. Ich habe viel Liebe in sie hineingesteckt, um das Leben hier so gemütlich wie möglich einzurichten, und das ist mir, so glaube ich, gelungen. Deshalb denke ich auch immer wieder daran, wie zuletzt am Samstag, als ich mich durch das volle Wohnzimmer in die Küche schlängelte, dass es Jammern auf hohem Niveau ist. Ich bin dankbar dafür, dass ich ein Dach über dem Kopf haben darf. Ich bin dankbar für den Schutz, den sie bietet, für die Privatsphäre, für den sicheren Ort, den ich mein Eigen nennen darf. Diesen Luxus haben 40.000 Menschen in Berlin leider nicht.
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Ich fühle mich in der Wohnung also wohl. Auch Berlin ist mittlerweile sowas wie Zuhause für mich. Die Stadt ist eine Multikulti-Bubble, an jeder Ecke wird hier eine andere Fremdsprache gesprochen und Individualität (großteils) großgeschrieben. In anderen Regionen Deutschlands kann es schon anders aussehen. Das wurde letzte Woche erneut bewiesen. Genau. Darüber wollte ich heute auch noch sprechen. Macht euch auf einen krassen Übergang gefasst.
Vergangenen Donnerstag ist ein Video im Internet viral gegangen. Und diesmal meine ich nicht eines von einer Wohnungsbesichtigung, zu der hunderte Interessierte erschienen sind. Ich spreche vom „Sylt-Video“, in dem junge Menschen in der Bar „Pony“ in Kampen zum Partyhit L’amour Toujours von Gigi D’Agostino rassistische Parolen grölen. „Deutschland den Deutschen - Ausländer raus“, falls ihr es genau wissen wollt.
Und ich weiß, ihr wollt es wahrscheinlich nicht hören. Ich will es auch nicht hören. Niemand will es hören. Glaubt mir, ich versteh das. Jeden Tag werden wir mit mehr und mehr schlimmen Nachrichten überhäuft. Da kommt man gar nicht mehr hinterher, weder intellektuell noch emotional, bei all den Grausamkeiten, die gerade auf der Welt passieren. Man möchte sich am liebsten in ein Loch verkriechen, sich davor verstecken, emotional abkapseln, einen Schutzpanzer aufbauen. Ich möchte diese Kolumne so gemütlich wie möglich gestalten, in der wir über meine skurrilen Alltagsmomente lachen können und ihr mir von euren erzählt. Aber wir alle tragen Verantwortung und können es uns nicht leisten, wegzuschauen. Menschen haben Angst. Der Rechtsruck in Deutschland und Österreich wird immer stärker und angsteinflößender, und ich frage mich, wie es möglich ist, dass wir als Gesellschaft solche Inhalte immer noch als schockierend empfinden? Jeder Medienbericht, den ich lese, nutzt fassungslose Sprache, um das Video zu beschreiben: „rassistische Pöbeleien alarmieren die Politik und schüren Ängste vor einem Rechtsruck“, „Bundespräsident zeigte sich besorgt“, „bundesweite Empörung“. Fremdenfeindliche Sprüche hört man *ständig*, und das Gigi D’Agostino-Lied wurde allein in den letzten Monaten mehrfach dafür benutzt, um rassistische Parolen zu rufen: in Bayern und Mecklenburg-Vorpommern, zuletzt auch in Niedersachsen. (Erst vor zwei Stunden wurde ein Video aus zwei Kärntner Clubs auf der Instagram-Seite von Zeit im Bild gepostet, in dem genau dasselbe gesungen wird!) Jene, die bei der Party auf Sylt anwesend waren, inkl. Barbetreiber, distanzieren sich von den Inhalten, wollen damit nichts zu tun haben. Dabei sollen wir proaktiver werden. Bei den Pöblern handelt es sich nicht um eine „verhältnismäßig kleine Gruppe“. Sie repräsentieren stark verfestigte Überzeugungen und gefährliche Verhaltensmuster, die in unserer Gesellschaft alles andere als Einzelfälle sind. Die Kommentare in den Sozialen Netzwerken, die den Vorfall beschwichtigen und schreiben, dass es sich bloß um ein paar Kids handle, die einfach ausgelassen gefeiert hätten, finde ich zutiefst eklig. Wenn man sich schon traut, sich bei solchen fremdenfeindlichen Äußerungen zu filmen, was passiert dann erst hinter geschlossenen Türen? Ich wünsche mir, dass wir alle beginnen, uns damit zu beschäftigen, nicht nur Betroffene oder Menschen mit Migrationshintergrund. Ich wünsche mir, dass wir einschreiten, wenn wir solches Verhalten beobachten. Es reicht halt einfach nicht, bloß mit den Augen zu rollen und sich von dem Geschehen zu distanzieren. Es ist egal, ob es ein Betrunkener in der Bar ist oder unser Onkel am Weihnachtstisch, wir können es uns nicht leisten, zu schweigen oder wegzuschauen. Wir müssen herausfordern, uns füreinander einsetzen, hinterfragen, Rückgrat beweisen. Und das nächstmögliche, was wir tun können, ist am 9. Juni bei der Europawahl mitzumachen. Bitte nutzt eure Stimme. Für mehr Miteinander, Gemeinschaft und ein offenes Europa.