GOOD MORNING! hörte ich sie enthusiastisch sagen, als ich mich auf dem Stuhl in der ersten Reihe zurechtrückte. Vielleicht klang ihre Stimme eine Spur zu laut für die verschlafenen Deutschen, die an jenem Freitag um 9:00 versuchten, sich mit billigem Filterkaffee wachzuhalten. Mit breitem Lächeln, noch breiteren Ohrringen und in einem knielangen pinken Kleid stand die amerikanische Architektin Pascale Sablan am Rednerpult des Berliner Architekturzentrums AEDES und hielt einen Keynote-Votrag darüber, was es bedeutet, eine BIPOC-Frau in der Architektur zu sein. Dieser fand im Rahmen der Konferenz Mind the Gap statt, die erste des Vereins Diversity in Architecture. Erst am Abend davor in Berlin angekommen, zeigte Pascale von Jetlag keine Spur, dafür jede Menge Energie. “I don’t drink coffee—can you imagine me caffeinated?” lachte sie ins Publikum. Sie war stolz und selbstbewusst und trat auch nach außen so auf. Der Raum war mucksmäuschenstill, wie verzaubert starrten sie die Anwesenden an. Eine Frau hinter mir flüsterte kichernd ins Ohr ihrer Sitznachbarin: “Oh, she’s so VERY New York.”
Pascale sprach über ihr beeindruckendes Engagement, unter anderem über die Say it Loud Wanderausstellung, die bisher vor allem in den USA und England gezeigt wurde. Je nach Ort werden ausgewählte BIPOC Architektinnen und Designerinnen aus der jeweiligen geografischen Region multimedial vorgestellt. Im Publikum fragte jemand, ob sie überhaupt noch Zeit habe, als Architektin zu praktizieren. Pascale lachte: “Of course“, schließlich sei das ihr Vollzeitjob. Alles andere sei „nur“ Aktivismus. Warum sollte sie sich für eine Sache entscheiden? Ganz selbstverständlich nimmt sie Raum ein, zu jeder Zeit, überall da, wo ihrer Meinung nach Veränderung nötig ist. Auch wenn es bedeutet, in die Google HQs gehen zu müssen, um herauszufinden, warum man bei der Google-Suche nach großartigen Architekt:innen fast ausschließlich weiße Männer findet. Sie fragt nach keiner Erlaubnis, braucht keine externe Motivation — ihre eigene Überzeugung reicht völlig aus.
Als ich Pascales Gesicht auf der zwei Meter großen Projektion großäugig anschaute, begriff ich, dass es mir schwer fällt, mich zu zeigen. Es wäre mir viel zu unangenehm, mein Foto auf einer so großen Leinwand zu sehen, da ich Angst hätte, das Publikum könnte glauben, ich halte mich selbst für viel zu wichtig. Der Gedankenprozess ist mindestens genauso kompliziert wie dieser Satz. Dieses Eingeständnis nervt mich, weil ich Pascale ganz und gar nicht eingebildet fand; im Gegenteil, ihre selbstbewusste Ausstrahlung war cool, erfrischend und höchst inspirierend. Gelten für einen selbst immer andere Regeln?
Meine persönliche Sichtbarkeitsreise könnte man in drei Phasen einteilen. Als kleines Kind war ich wahnsinnig schüchtern. Ich erinnere mich daran, einmal heulend meine Kindergartengruppe verlassen zu haben und zu meiner Mutter, die im selben Kindergarten arbeitete, gelaufen zu sein. Ich hielt es in der Ungewissheit nicht aus und brauchte jemanden an meiner Seite, bei dem ich mich sicher fühlte. Bis zum sechsten oder siebten Lebensjahr war ich übelst introvertiert und in mich gekehrt, am liebsten in einer Ecke mit Buch als mitten im Gespräch mit anderen Kindern. Später kam die Glow-up-Phase, als ich in der Schule zum ersten Mal schauspielern durfte und realisierte, dass ich die Aufmerksamkeit und Spontanität liebte. Den Applaus, die körperliche Hingabe, das Lautsein. Tatsächlich durfte ich auf der Bühne einmal richtig schreien, so wie Addison Rae im the von dutch remix von Charlie xcx, nur ein paar Oktaven tiefer. Damals dachte ich keine Sekunde über die Lautstärke meiner Stimme nach, ich schrie einfach los, ohne es zu hinterfragen. Das kam später, als ich mal mit Ende zwanzig gesagt bekam, dass mein Lachen viel zu laut sei. Das war wohl der Anfang der dritten Phase, in der ich begonnen habe, mein Verhalten von außen akribisch zu bewerten und zu steuern. Vor allem in Arbeitssituationen behielt ich meine Meinungen für mich, auch wenn sie durchaus ihre Berechtigung hatten. Diese Angewohnheit hält teilweise bis heute an. Als ich vor ein paar Wochen meine Poetry-Gruppe zur Diskussionsrunde traf, bemerkte ich, dass ich zuerst alle anderen Teilnehmenden zu Wort kommen lasse, bevor ich mir die Erlaubnis gebe, selbst etwas zu sagen. Als es an dem Abend auch zu diesem universell unangenehmen Moment kam, wo eine Person mit dir zeitgleich zu sprechen beginnt, ließ ich ihr den Vortritt. Ganz selbstverständlich, als wären meine Gedanken zweitrangig. „Bitte, du wolltest etwas sagen?“ streckte ich meine Hand aus als Hinweis, dass sie zuerst dran war. Als die Person mit ihrem ewig langen Monolog fertig war, machten wir mit dem nächsten Thema weiter, weil die Zeit zu knapp wurde. Während ich diese Zeilen schreibe, kommen mir noch mindestens drei andere Situationen in den Sinn, in denen ich mich ähnlich verhalten habe. So was passiert mir vor allem dann, wenn mein Platz nicht klar definiert ist und ich die Menschen erst einordnen muss, genauso wie sie mich. Im Grunde bin ich ja selbst daran schuld, weil ich mich fast immer freiwillig in den Hintergrund stelle, um jemand anderem das Rampenlicht zu überlassen. Doch ab wann ist das keine Höflichkeit mehr, sondern Selbstsabotage?
Seit einer Weile beobachte ich bei mir dieses Phänomen, das ich Reversed Confidence nenne. Das heißt so viel wie, dass die Empfindungen und Meinungen anderer Menschen zu mir durchsickern und mich beeinflussen, obwohl sie es nicht sollten. Je älter ich werde, desto poröser fühle ich mich. Sanfter, vulnerabler. Das hat natürlich auch seine schöne Seiten, aber sollte das grundsätzlich nicht umgekehrt sein? Im Alter eine dickere Haut bekommen, immer weniger Fucks geben? Schön wärs, mir werden von Jahr zu Jahr gefühlt immer mehr Fucks wichtig, und als Konsequenz behalte ich meine Gedanken wohl öfter für mich, als mir eigentlich lieb ist. Es steht gefühlsmäßig mehr aufm Spiel, als damals mit elf oder zwölf, als ich selbstbewusst über die Bühne stolzierte und mich in all meiner Ganzheit zeigen konnte. Kein Mikrofon war nötig, jede:r konnte mich hören. Vielleicht habe ich mich deshalb kürzlich für einen Schauspielkurs im Januar eingeschrieben, weil ich dieses furchtlose Kind in mir wieder wecken möchte. Manchmal höre ich es in mir schlummern, dieses laute, alberne und enthusiastische Ich, dass unter so vielen Facetten des Älterwerdens begraben liegt und nur mehr für eine Handvoll von Menschen an die Oberfläche kommt. Vielleicht gehört es ja zum Leben dazu, vielleicht ist es okay, sogar richtig, nur ein paar Auserwählten sein ganzes Ich zu zeigen. Man sagt ja nicht umsonst, dass die eigene Energie begrenzt ist und sinnvoll eingesetzt werden sollte. Aber wieviele schöne Begegnungen gehen bei all der Sparsamkeit eigentlich verloren? Und wieviele werden übersehen?
Vielleicht ist es an der Zeit, meine verstummte Extrovertiertheit wieder zu Wort kommen zu lassen, etwas zu wagen, ohne jeden Schritt doppelt zu überdenken. Einen Schritt ins Sonnenlicht machen, statt immer drei zurück in den Schatten. Vielleicht sogar endlich aus dem Vorhang hervortreten, statt mich dahinter zu verstecken, oder sogar die Rolle der stillen Statistin abzulegen und stattdessen die Hauptrolle zu spielen? Ja, vielleicht stolpere ich dabei. Vielleicht falle ich spektakulär auf die Nase, und die Menge lacht oder buht, anstatt zu applaudieren. Doch am Ende bleibe ich so mir selbst treu und fühle mich dabei hundert Kilo leichter. Bekanntlich zieht man so auch die richtigen Menschen an.
Also, BE LOUD with me, will you?
Eure Niki.
Oh, ich fühle das sehr. Mir fällt an mir selbst immer wieder auf, dass ich davon ausgehe, sobald ich Raum einnehme, haben andere diesen nicht mehr. Dabei übersehe ich komplett, dass zwischen ‘zu leise’ und ‘zu raumeinnehmend’ wahnsinnig viele Schattierungen liegen – also das eigentlich Platz für alle sein könnte. Wenn man aber jahrelang vor allem gesellschaftlichen Erwartungen und vielleicht auch den Werten der eigenen Erziehung folgt, schließen sich immer mehr Erfahrungsräume, es einfach mal anders zu probieren. Die Idee von Schauspielunterricht klingt da für mich irgendwie total logisch. Richtig spannend :)